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Kernkraftwerk Tschernobyl

Kernkraftwerk Tschernobyl

Vom 24. Februar bis zum 31. März 2022 hatte das russische Militär nach ukrainischen Angaben das Gelände des ehemaligen Kernkraftwerk in Tschernobyl und die umliegende Sperrzone unter seiner Kontrolle. 1986 war es dort zu einem schweren Reaktorunfall gekommen; heute werden auf dem Gelände unter anderem abgebrannte Brennelemente zwischengelagert und der kontrollierte Rückbau des zerstörten Block 4 vorbereitet.

(Diese Unterseite behandelt die Ereignisse am KKW Tschernobyl von Ende Februar bis Anfang Mai. Um sich über die tagesaktuellen Geschehnisse zu informieren, besuchen sie bitte unsere Seite zu den aktuellen Entwicklungen.)

Mehrere Lizenzen für Stilllegungs- und Konditionierungstätigkeiten vorübergehend ausgesetzt

Die Aufsichtsbehörde SNRIU hat bereits am 26.04. mehrere Lizenzen ausgesetzt, die hauptsächlich Arbeiten der Stilllegung und Konditionierung betreffen. Das teilte die Behörde am 05.05. auf ihrer Webseite mit. Sie begründete die Entscheidung damit, dass aufgrund der Auswirkungen der russischen Besetzung die Einhaltung der Normen und Vorschriften zur nuklearen und Strahlungssicherheit zurzeit nicht gewährleistet werden könne.

Das KKW Tschernobyl teilt mit, dass konkret die folgenden Genehmigungen ausgesetzt wurden:
- Nr. EO 000040 – für das Recht zur Durchführung von Tätigkeiten in der Lebenszyklusphase "Stilllegung" der Blöcke 1, 2 und 3 des KKW Tschernobyl;
- Nr. OB 001092 – für das Recht zur Durchführung von Tätigkeiten zur "Verarbeitung und Lagerung radioaktiver Abfälle" (Betrieb der Liquid Radioactive Waste Treatment Plant (LRTP));
- Nr. OB 001094 – für das Recht zur Durchführung von Tätigkeiten zur "Verarbeitung und Lagerung von radioaktiven Abfällen" (Betrieb des NSC-SO-Komplexes);
- Nr. OB 001095 – für das Recht zur Durchführung von Tätigkeiten zur "Verarbeitung und Lagerung radioaktiver Abfälle" (Betrieb des Temporary Storage Facility for Solid Waste of III Group (High-Level Waste), Low- and Intermediate-Level Long-Lived Waste (TSF for HLW and LIL-LLW));
- Nr. OB 001096 – für das Recht zur Durchführung von Tätigkeiten zur "Verarbeitung und Lagerung radioaktiver Abfälle" (Inbetriebnahme der Solid Radioactive Waste Retrieval Facility (SWRF) und der Solid Radioactive Waste Processing Plant (SWPP) of the Industrial Complex for Solid Radioactive Waste Management (ICSRM).
- Nr. OB 010950 – für das Recht zur Durchführung von Tätigkeiten zur Nutzung ionisierender Strahlenquellen.

Bericht der IAEA im Nachgang an deren Expertenmission in die Ukraine

Die IAEA hat im Nachgang an ihre Expertenmission am 28.04. einen zusammenfassenden Bericht zur Situation der kerntechnischen Anlagen in der Ukraine veröffentlicht. Darin geht sie insbesondere auf die Sicherheit der Anlagen und die Strahlungssituation am Standort Tschernobyl ein.

Darin konstatiert die IAEA etwa, dass der Ausfall der externen Stromversorgung am 09.03. keine wesentlichen Sicherheitsfunktionen des Brennelementlagerbecken ISF-1 beeinträchtigt hätte, da die Kühlwassermenge in der Anlage für abgebrannte Brennelemente ausreichend gewesen sei, um die Wärmeabfuhr auch ohne Strom aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus seien Backup-Dieselgeneratoren für sicherheitsrelevante Energiesysteme verfügbar gewesen.

Am 27.04. führten IAEA-Experten zudem eine erste Strahlungsmessung in der Sperrzone von Tschernobyl durch – einschließlich solcher Bereiche, in denen russische Soldaten Gräben ausgehoben haben sollen. Die Messungen wurden auf einen eingeschränkten Bereich etwa 10 cm und 1 Meter über dem Boden durchgeführt. Die dabei ermittelten Werte lagen zwischen 0,2 Mikrosievert/Stunde (μSv/h) und 0,75 μSv/h, was 3- bis 5-mal über der Dosisleistung auf der nahe gelegenen Straße liegt. Berichte, nach denen russische Soldaten nach dem Aufenthalt in der Sperrzone erhöhte Strahlungsdosen erhalten haben sollen, konnte die IAEA hingegen bislang nicht verifizieren.

Von den bei der Plünderung und Zerstörung des analytischen Labors am Standort Tschernobyl entwendeten Quellen zur Kalibrierung, sieht die IAEA keine erhebliche radiologische Gefahr ausgehen. Außerdem bewertet sie die zu Beginn der Invasion ermittelten angestiegenen Strahlungswerte in der Sperrzone – verursacht durch militärische Fahrzeuge – als niedrig und innerhalb des Bereiches, der in der Sperrzone seit ihrer Einrichtung gemessen wurde. Sie geht daher davon aus, dass sie keine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellten.

Außerdem haben Mitglieder der IAEA-Expertenmission am Standort vorhandenes Nuklearmaterial gesichtet und im Rahmen der Safeguard-Initiative verifiziert. So wurde beispielsweise ein neues satellitengestütztes Kommunikationssystem am Standort installiert, zur automatischen Datenübermittlung an die IAEA genutzt wird.

Schichtwechsel und Start einer Expertenmission

In ihrem Update vom 21.04. informierte die IAEA, dass die Schichtwechsel am KKW Tschernobyl nach ukrainischen Angaben nun regelmäßig und nach Plan verlaufen. Außerdem kündigt sie eine Expertenmission an den Standort Tschernobyl beginnend am 26.4. an. Der Mission werden demnach Fachleuten für Sicherheit, Sicherung und sogenannte Safeguards angehören. Das Team soll unter anderem Ausrüstung liefern und die Situation vor Ort radiologisch bewerten.

Telefonkontakt zwischen KKW und Behörde wiederhergestellt

Die IAEA meldete am 19.04. mit Verweis auf Angaben der Ukraine, dass die direkte Telefonverbindung zwischen der Aufsichtsbehörde SNRIU und dem KKW Tschernobyl wiederhergestellt wurde - mehr als einen Monat nachdem die Ukraine der IAEA meldete, dass der Kontakt unterbrochen sei.

Beschuss an Checkpoints der Stadt Slavutych

Am 24.3. wurde unter anderem vom Betreiber des KKW Tschernobyl berichtet, dass Checkpoints der Stadt Slavutych unter Beschuss russischer Truppen stehen. Die Stadt, in der zahlreiche Mitarbeitende des KKW-Standortes leben, liegt etwa 50 Kilometer vom Kraftwerk entfernt. Die IAEA zeigte sich insbesondere im Hinblick auf die damit einhergehende Belastung des Personals besorgt und meldete am 25.3. in Berufung auf die ukrainische Behörde, dass seit dem 21.3. kein Personalwechsel mehr stattgefunden habe.

Waldbrände im Umkreis des KKW

Die IAEA informierte in einer Meldung am Abend des 23.3. über die aktuelle Situation bzgl. der Waldbrände im Umkreis des KKW Tschernobyl bzw. in der Sperrzone.   

Nach Angaben der Aufsichtsbehörde SNRIU versuchen Feuerwehrleute die Waldbrände zu löschen. Die örtliche Feuerwache habe derzeit allerdings keinen Zugang zum Stromnetz und sei auf Dieselgeneratoren angewiesen. In der Sperrzone würden zudem derzeit keine Strahlungsmessungen durchgeführt.

In Kiew und an zwei KKW-Standorten westlich von Tschernobyl sei ein leichter Anstieg der Cäsiumkonzentration in der Luft festgestellt worden. Dies werfe jedoch keine erheblichen radiologischen Bedenken auf.

Wechsel des Personals am 20.03. und 21.03

Das Betriebspersonal des Kernkraftwerks Tschernobyl konnte am 20.03.2022 laut einer Meldung der ukrainischen Aufsichtsbehörde SNRIU nach 25 Tagen durchgehender Schicht zur Hälfte gegen neue ukrainische Mitarbeitende ausgetauscht werden. Der Rest der Mannschaft wurde nach übereinstimmenden Angaben von SNIRIU und IAEA einen Tag später am 21.03. ausgewechselt – ausgenommen 13 Mitarbeitende, die freiwillig vor Ort blieben. Zudem wurde eine Vereinbarung getroffen, die regelmäßige Schichtwechsel garantieren soll.

Sowohl die IAEA als auch die Behörde hatten bis dahin darauf hingewiesen, dass immer noch dasselbe Personal vor Ort arbeitete wie zum Zeitpunkt der militärischen Übernahme. Verbunden mit der Anwesenheit militärischer Truppen und dem daraus resultierenden Stress bestand die Sorge, dass Bedienfehler auftreten könnten.  

Ausfall der externen Stromversorgung am 09.03.

Laut der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde SNRIU sind alle Anlagen in einem kontrollierten Zustand und werden vom Betriebspersonal des SSE Chernobyl NPP betreut. Auch die Unterbrechung der letzten Stromverbindung zum Standort Tschernobyl seit dem 09.03.2022 ist erst einmal kein Anlass für sicherheitstechnische Bedenken: Für diesen Fall sieht das Betriebsregime des KKW Tschernobyl die Versorgung der sicherheitsrelevanten Verbraucher, wie zum Beispiel des Kraftwerks und des Nasslagers für abgebrannte Brennelemente (ISF-1), durch Notstromdiesel vor. Die Stromversorgung kann dadurch für einige Tage aufrechterhalten werden.

Sollte danach weder der Anschluss an ein Stromnetz wiederhergestellt noch zusätzlicher Diesel verfügbar sein, ist beim derzeitigen Zustand des Standortes nicht von einer schnellen und größeren Freisetzung von Radioaktivität auszugehen. Die Brennelemente im ISF-1 lagern dort seit mindestens 20 Jahren und die Nachzerfallsleistung der Brennelemente ist mittlerweile so weit abgeklungen, dass eine Kühlung durch das vorhandene Wasserinventar ohne Zwangsumwälzung sichergestellt werden kann. Mögliche Verdunstungen würden erst nach mehreren Wochen zu einem signifikanten Wasserverlust führen.

Dieser stellt mehr aus Strahlenschutzsicht denn aus Sicht der nuklearen Sicherheit ein Problem dar, da bei einem Verlust (auch partiell) des Lagerbeckenwassers die radioaktive Abschirmwirkung nachlassen würde, so dass ein Betreten des Lagers durch das Betriebspersonal nicht mehr ohne Weiteres mögliche wäre. Auch in diesem Fall würde sich jedoch für die Umgebung des Kraftwerkes oder für weiter entfernte Regionen keine sicherheitstechnisch bedenkliche Situation ergeben. Weiterführende Informationen

Nachdem die Leitung zwischenzeitlich repariert und wieder unterbrochen wurde, meldete die IAEA am 14.03, dass die Stromversorgung laut ukrainischen Angaben seit 13:10 Uhr wiederhergestellt ist.

Messnetz ausgefallen

Die Funktion des automatisierten Messnetzes konnte nach Angaben von SNRIU bislang nicht wiederhergestellt werden. Außerdem bestehe nach wie vor keine telefonische Verbindung zum Bedienpersonal. 

Erhöhte Strahlungswerte in der Sperrzone und auf dem Anlagengelände

Am 25.02. meldeten zahlreiche Medien einen Anstieg der Ortsdosisleistung (ODL) an verschiedenen Messpunkten innerhalb der 30-Kilometer Sperrzone um das Kernkraftwerk Tschernobyl. Die Daten, die vom staatlichen Messnetz MEDO veröffentlicht werden, haben dies bestätigt. Die ODL-Werte waren an einigen Messpunkten im Bereich der Anlage zum Teil erheblich angestiegen (in der Spitze von ursprünglich ca. 3 Mikrosievert/Stunde (μSv/h) auf ca. 93 μSv/h), stellten jedoch keine unmittelbare Gefährdung für die dort Anwesenden dar.

Nachdem die MEDO-Webseite vom 25.–27.02. nicht erreichbar war, konnten vom 28.02.-01.03. aktualisierte Werte abgerufen werden. Der Zugriff von extern funktionierte jedoch nur unregelmäßig. Die Spitzenwerte auf dem Anlagengelände (bis zu 93 μSv/h am 25.02.) sind demnach deutlich zurückgegangen und lagen zuletzt bei ca. 2–8 μSv/h (01.03.). Am 01.03. unterschieden sich an einigen Messstellen aktualisierte Werte von den davor veröffentlichten genau um einen Faktor zehn. Dies könnte auf einen Übertragungsfehler hindeuten. Am 03.03. informierte die ukrainische Aufsichtsbehörde darüber, dass es keinen öffentlichen Zugang zu den Daten des MEDO-Systems gebe.

Zur Einordnung der vorgenannten Daten: Laut Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) erhält eine in Deutschland lebende Person durch die Hintergrundstrahlung (kosmische und terrestrische Strahlung) jährlich etwa eine Dosis von 0,7 Millisievert (mSv). Das entspricht umgerechnet auf die einzelne Stunde etwa 0,078 μSv. 

Die ukrainische Aufsichtsbehörde sieht für die erhöhten ODL-Werte die Militärbewegungen auf dem Gelände der Sperrzone verantwortlich, durch die Staub und damit radioaktives Material aufgewirbelt wurde. Wie unter anderem die Internationale Atomenergieorganisation IAEA mitteilt, soll es auf dem Gelände selbst zu keinen größeren Kämpfen oder Beschädigungen gekommen sein.

(Stand: 06.05.2022)