„Es muss alles dafür getan werden, dass nukleare Anlagen nicht Gegenstand militärischer Auseinandersetzungen sind.“

Seit der Annexion der Krim 2014 arbeitet die GRS mit ukrainischen Partnern zusammen, um die Sicherung kerntechnischer Einrichtungen im Land zu stärken. Die Projekte werden vom Auswärtigen Amt (AA) gefördert. Dr. Stephan Theimer, der eines dieser Projekte leitet, spricht in unserem Interview unter anderem über Herausforderungen, die der Krieg für den Arbeitsalltag mit sich bringt, was die derzeitige Situation für die Sicherung der Anlagen bedeutet und was er sich für die zukünftige Zusammenarbeit wünscht.

 

Die Zusammenarbeit mit den Partnern aus der Ukraine besteht seit vielen Jahren. Wie haben Sie in dem Zusammenhang den russischen Überfall auf die Ukraine erlebt? Habt Ihr direkt Kontakt zu den Projektpartnern aufgenommen?

Als mich die Nachricht vom russischen Überfall erreichte, war ich selbst auf Dienstreise in Deutschland unterwegs. Ich war mir erst nicht sicher, ob ich das für bare Münze nehmen soll, da ja die Tage zuvor so viel spekuliert worden war. Und irgendwie wollte ich es auch nicht glauben beziehungsweise hoffte, dass es nicht passiert ist.

Wir haben dann umgehend Kontakt zu unseren ukrainischen Partnern aufgenommen. Wir haben einige Kolleginnen und Kollegen in der Abteilung, die teilweise schon Jahrzehnte in Projekte mit der Ukraine involviert sind und fließend Russisch und teilweise Ukrainisch sprechen; über sie haben wir direkt versucht Kontakt aufzunehmen. Zuerst einmal hieß es dann hoffen, dass unsere Bekannten und ihre Familien nicht unmittelbar vom Kriegsgeschehen betroffen sind.

Die Situation war ja gerade zu Beginn ungewiss und vor allem sehr unübersichtlich. Viel mehr als unser Mitgefühl ausdrücken, unsere Hilfe anbieten, blieb uns da leider nicht übrig.

 

Welche Veränderungen haben sich hinsichtlich des Projekts aus dieser neuen Situation ergeben?

Nach der anfänglichen Aufregung und Unruhe haben wir eine Reihe von Sofort-Maßnahmen identifiziert, die wir, das kann man denke ich so sagen, unseren Partnern vor Ort schnell und unbürokratisch zur Verfügung gestellt haben. Dabei hat einerseits das Auswärtige Amt teilweise wahre Handstände vollbracht und sehr zügig und bedarfsgerecht unterstützt. Zum anderen haben unsere Partner aus der Industrie, die unsere Projekte in der Ukraine seit 2015 mit sehr hohem persönlichem Engagement betreiben, umgehend Hilfe herbeigeschafft, Transporte organisiert und finanziert.

Wenn man sich die ganze Situation mal etwas allgemeiner anschaut, haben wir es bezüglich der nuklearen Sicherheit und somit auch in unserem Fachbereich (Anm.: der Sicherung) mit einer ganz neuen Dimension von Bedrohungslagen zu tun, die vorher einfach nicht zur Debatte standen: Bis zu den Angriffen auf die Kernkraftwerke (KKW) Tschernobyl und Saporischschja und deren Besetzung durch die russische Armee war man in Fachkreisen nie von einer direkten militärischen Bedrohung einer Anlage ausgegangen – und das übersteigt natürlich auch das, was eine Sicherung der Anlage im klassischen Sinne überhaupt zu leisten vermag.

 

Hat sich dieses klassische Verständnis von Sicherung mit Kriegsbeginn verändert?

Wie fange ich an? Zuerst einmal befindet sich die Ukraine ja quasi seit 2014, als die Krim völkerrechtswidrig besetzt wurde, im Krieg mit Russland. Fragestellungen nach dem physischen Schutz von KKW gewannen seitdem in der Ukraine zunehmend an Bedeutung.

Damals startete auch unsere eigentliche Projektarbeit mit dem Auswärtigen Amt und der Ukraine. Mit Beginn der Invasion 2022 haben sich diese Fragen natürlich verschärft, wobei man abwägen muss: Welchen Aufwand kann und will ich für die Sicherung einer Anlage betreiben? Und wo stoße ich mit den Möglichkeiten der Sicherung an Grenzen? Platt gesagt: Wenn der Feind mit Armee und Panzern anrollt, hilft mir eine Videoüberwachung auch nicht mehr; denen ist egal, dass die gesehen werden. Und ich kann nicht sämtliche Einrichtungen der kritischen Infrastruktur sichern wie Fort Knox.

Nach internationalen Empfehlungen gibt es bei der Sicherung einen Dreiklang: detect – delay – respond. Wir erleben durch die neuen Lagen eine Verschiebung von einem eher überwachenden (detect) zu einem vielmehr aktiveren, robusteren Schwerpunkt (delay and respond).

Generell geht es also darum, dass man Sicherungsmaßnahmen in einer immer dynamischeren Welt schnell anpassen und somit flexibel auf Bedrohungen reagieren kann. Wir versuchen dabei, den Blick „out of the box“ zu richten, also in welchen beispielsweise industriellen Bereichen gibt es ähnliche Rahmenbedingungen und Anforderungen und wie werden sie dort bewältigt.

Zudem sehen wir uns seit Kriegsbeginn mehr denn je als ein Teil des großen Ganzen und intensivieren auch unsere internationalen Kontakte und die Zusammenarbeit. So können wir einerseits mit unseren ukrainischen Partnern gemeinsam Lösungen erarbeiten und andererseits dem außerordentlich hohen Informationsbedürfnis unseres Hauptauftraggebers, des Auswärtigen Amtes, gerecht werden.

Kommen wir wieder auf das Projekt zurück: Ein Teil Ihrer Arbeit ist die „Endabnahme vor Ort“. Was bedeutet das konkret und welche Alternativen nutzen Sie, seit dies aufgrund des Krieges bis auf Weiteres nicht möglich ist?

Dr. Stephan Theimer bei einer Werksabnahme

Üblicherweise erfolgt die Endabnahme an den jeweiligen Standorten. Ein gutes Beispiel sind unsere Wachkabinen:  Wir schauen, ob die Wachkabinen auch in dem Zustand ankommen, wie wir sie im Werk abgenommen haben und ob alle Dokumente und Zertifikate vollzählig sind.

Idealerweise werden die Kabinen vor Ort aufgestellt und ins vorhandene Sicherungssystem eingebunden. Bei der Abnahme vor Ort war dann von uns jemand dabei. 

Bis zu einer erfolgreichen Endabnahme sind sehr viele kleine Schritte zu gehen. Unter anderem sind diverse Vertragsentwürfe und -zeichnungen, Zeichnungsfreigaben, Werksabnahmen in Deutschland und Registrierungen von Transporten sowie natürlich der Transport selbst zu bearbeiten. An diesen Tätigkeiten hat sich im Wesentlichen auch nichts geändert.

Beim Transport in die Ukraine arbeiten wir mit Unternehmen zusammen, zu denen wir über die Jahre eine sehr vertrauensvolle Beziehung aufgebaut haben. Gleiches gilt natürlich auch für unsere ukrainischen Kolleginnen und Kollegen, sodass sich Routinen entwickeln konnten, dank derer wir die Endabnahme ausschließlich durch unsere ukrainischen Partner vornehmen und auch dokumentieren lassen können.

Der letzte Schritt, die Implementierung in das örtliche Sicherungssystem, ist ohnehin Aufgabe unserer Partner vor Ort. So gesehen nehmen wir also nur an einem Prozessschritt weniger aktiv teil. Der größte Nachteil ist in meinen Augen dabei, dass durch das Wegfallen der Reisen auch die Projektgespräche und Begehungen vor Ort nicht mehr stattfinden – dieser direkte persönliche Austausch war für beide Seiten extrem wertvoll.

 

Wie hat sich die Projektarbeit durch den Krieg verändert? Gab oder gibt es kriegsbedingte Hürden?

Die ersten zwei Monate verlief die Kommunikation sehr operativ und unzuverlässig. Die Internetverbindung brach beispielsweise häufig ab. Auch wenn die Situation sich mittlerweile stabilisiert hat, sind wir nach wie vor mit solchen Problemen konfrontiert: Letzten April fand zum Beispiel eine wichtige Konferenz virtuell statt. Trotz mehrfacher Stromausfälle während der Konferenz, sichtbar durch dunkle Teilnehmerkacheln in der Videokonferenz-Software, stand die Internetverbindung und die Inhalte wurden verlässlich transportiert. Das hat mich sowohl vom organisatorischen als auch vom menschlichen Standpunkt aus tief beeindruckt: Wie die ukrainischen Vortragenden unter diesen Extrembedingungen fachlich abgeliefert haben, war aller Ehren wert.

Insofern hatten, was die Projektabläufe betrifft, die mit der Corona-Pandemie einhergehenden Schutzmaßnahmen irgendwie auch ihre guten Seiten: Ab Frühjahr 2020 mussten wir schon kreativ werden, um bestimmte Projektabläufe und -prozesse remote abzuwickeln. Seit Beginn der Pandemie konnte leider nur eine einzige Reise in die Ukraine unternommen werden, bevor der Krieg losging.

Dazu kommt das berechtigterweise hohe Informationsbedürfnis unseres Auftraggebers, das ich ja schon angesprochen hatte. Auch das beeinflusst natürlich die Projektarbeit: Sehr oft kommt es zu Anfragen nicht nur aus dem AA, die schnell und detailreich beantwortet werden müssen. Die reinen Projektabläufe selbst haben sich bewährt, jedoch müssen wir aufgrund der neuen Bedrohungslage auch die entsprechenden Sicherungsmaßnahmen hinterfragen und bewerten. Teilweise sind hier Anpassungen notwendig und wir müssen neue Partner mit „ins Team holen“. Das erfordert sehr viel administrative und abteilungsübergreifende Abstimmungsarbeit. Ich denke, dass wir als GRS nicht zuletzt dank unserer interdisziplinären Struktur und Kompetenzen echt gute Arbeit geleistet haben und auch weiterhin leisten.

 

Bei all den turbulenten Ereignissen seit Kriegsbeginn: Gibt es eine Sache aus den letzten Monaten, die Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben ist?

Gute Frage, und so viel mal vorweg: Das letzte Jahr war sehr arbeits- und erkenntnisreich. Hätte mir jemand im Januar 2022 erzählt, wie sich die folgenden zwei Jahre entwickeln, hätte ich diese Person wohl für verrückt erklärt.

Besonders beeindruckt hat mich während einer Werksabnahme bei einem unserer deutschen Industriepartner, dass ein Mitarbeiter auf unsere ukrainischen Partner zukam und diese zum Abendessen eingeladen und sich vielfach herzlich bedankt hat. Hintergrund: Nach Kriegsbeginn sollte eine Angehörige seiner Frau aus der Ukraine nach Deutschland kommen. Der Transport musste jedoch liegend erfolgen und es ergab sich kriegsbedingt nur ein knappes Zeitfenster für die „Evakuierung“. Durch engagierten Einsatz und Beziehungen der ukrainischen Partner konnte die Angehörige zunächst verlegt und anschließend nach Deutschland verbracht werden. Solche greifbaren persönlichen Happy-End-Erlebnisse erzeugen bei mir eine Gänsehaut. Und es zeigt, dass es sich bei unserer Arbeit nicht um „fire and forget“-Projekte handelt, sondern dass hier Partnerschaften und Freundschaften wachsen, die über den Arbeitsalltag hinausgehen.

 

Und in die Zukunft geschaut: Was wünschen Sie sich für Ihr Projekt?

Das ambitionierte Ziel, vom Projekt abgesehen, ist und bleibt natürlich der Frieden und die Rückkehr zu den Verhältnissen von vor dem Krieg, auch wenn wir darauf leider keinen direkten Einfluss haben. Was unsere Arbeit betrifft, bin ich der Überzeugung, dass alles dafür getan werden muss, dass nukleare Anlagen nicht Gegenstand militärischer Auseinandersetzungen sind.

Ich bin aber auch Realist: „Hoffe auf das Beste und bereite dich auf das Schlimmste vor“. Wir dürfen die Augen nicht verschließen. Unsere ukrainischen Partner machen uns das täglich vor.