Wenn es ernst wird – Deutschlands INES-Officer im Interview zum Reaktorunfall in Fukushima
Sie waren unmittelbar nach dem Reaktorunfall in Fukushima im Notfallzentrum der GRS im Einsatz. Wie haben Sie von dem Unfall erfahren?
Ich habe an dem Morgen im Auto auf dem Pendler-Parkplatz die Radio-Nachrichten um 6:25 Uhr gehört. Da wurde von dem schweren Erdbeben und dem drohenden Tsunami gesprochen. Als ich um 7:30 Uhr in der GRS ankam, habe ich die Nachrichten gelesen und von Fukushima erfahren.
Wann war klar, dass sich der Störfall zu einem schweren Unfall entwickelt?
Das war uns sehr schnell klar. Ziemlich sicher waren wir uns dann gegen 9 Uhr unserer Zeit, nachdem ich mit einem japanischen Kollegen telefoniert hatte. Er bestätigte die Ausfälle aller Systeme einschließlich der Sicherheitssysteme. Von diesem Zeitpunkt an wussten wir, dass neben dem externen Stromnetz auch die Notstromdiesel im Kraftwerk und die Gleichstromversorgung über die Batterien ausgefallen waren. Da wussten wir, dass es richtig ernst wird.
Hätte es Maßnahmen gegeben, die eine Kernschmelze hätten verhindern können? Wenn ja, welche?
Dies lässt sich auch nach so langer Zeit und vielen Analysen nur schlecht sagen, da man die Anspannung und Organisationsmöglichkeiten des Personals nicht nachvollziehen kann. Sicher ist nur, dass die Blöcke 2 und 3 möglicherweise hätten gerettet werden können, wenn Block 1 nicht oder nur einige Stunden später explodiert wäre. Die TEPCO-Mitarbeiter waren grade dabei, die entsprechenden Wasserleitungen zu legen, um die beiden Reaktoren zu kühlen. Nach der Explosion von Block 1 waren einige Bereiche im Umfeld der Reaktoren dann gar nicht mehr betretbar.
Wie ging es dann für Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen in der GRS weiter?
Wir haben uns am Morgen mit unseren Experten zusammengesetzt, da uns bewusst war, dass dies ein besonders schwerer Unfall war. Zur Mittagszeit sind wir gemeinsam in unseren Notfallraum umgezogen und haben dort die nächsten Tage und Wochen fast ununterbrochen verbracht. Hier haben wir alle Informationen über den Unfall und die Anlagen zusammengetragen, um genau zu verstehen, was in Fukushima passiert. Unsere Hauptaufgabe war, das Bundesumweltministerium und damit auch die Bundesregierung zu unterrichten. Dazu haben wir täglich mehrere Lageberichte verfasst. Gleichzeitig hat die GRS aber auch große Anstrengungen unternommen, die Öffentlichkeit und die Journalistinnen und Journalisten zeitnah zu informieren.
Gibt es einen Moment oder eine bestimmte Erfahrung aus diesen Tagen, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Die ersten Tage sind mir noch sehr präsent. Dazu zählt gegen 14 Uhr am 11. März 2011 der Hinweis eines Kollegen, der das Verhalten von Reaktoren nach schweren Störfällen berechnet, dass jetzt wohl der Reaktorkern in Block 1 geschmolzen sei. Dies sei der zu erwartende Störfallablauf, wenn die Kernkühlung solange ausfällt. Das gehörte zu den Dingen, die man gar nicht wissen wollte, aber die technische Analyse besiegte die Hoffnung.
Interessant fand ich auch die Live-Berichterstattung des Morgenmagazins der ARD aus unserem Notfallraum am Montag nach dem Unfall. Besser hätte man der Öffentlichkeit unsere Arbeit in der GRS nicht zeigen können.
Sie sind als INES-Officer an der Einstufung nuklearer Stör- und Unfälle auf der INES-Skala beteiligt. Der Unfall in Fukushima wurde zunächst auf Stufe 3 als „ernster Störfall“ eingestuft und später auf die höchste Stufe 7 als „katastrophaler Unfall“ höhergestuft. Wie kam es dazu?
Die Kollegen von der japanischen Aufsichtsbehörde haben sich genau an den Wortlaut des INES-Handbuchs gehalten, dass eine Einstufung erst nach dem Ereignis vorgenommen werden sollte. Ich habe mich in Interviews damals nicht an die Vorgaben im INES-Handbuch gehalten, da offensichtlich war, dass die angegebene Einstufung nicht korrekt war. In der nächsten Ausgabe des INES-Handbuchs, die wohl dieses Jahr erscheint, wird die Einstufung bei noch andauernden Störfällen neu gefasst.
Hat der Unfall in Fukushima Spuren im Sinne von „Lessons Learned“ hinterlassen – bei der GRS und auch generell?
Der Unfall hat Überprüfungen von Kernkraftwerken in der ganzen Welt ausgelöst. Das Ergebnis sind etliche Verbesserungen für die Prävention und Schadensbegrenzung bei schweren Unfällen in Kernkraftwerken. Vorreiter dieser Maßnahmen war Deutschland, das mit seinen in der Öffentlichkeit als Stress-Test bekannt gewordenen Untersuchungen die Überprüfungen in der EU und dann auch außerhalb der EU wesentlich beeinflusst und beschleunigt hat.
Auch für uns in der GRS hat sich danach einiges geändert. Obwohl wir die Situation nach dem Unfall mit viel Einsatz gemeistert haben, wurden dennoch auch Punkte festgestellt, die verbessert werden mussten. Die Räume für das Notfallzentrum haben sich bei einem derartig großen und lang andauernden Notfall als zu klein und technisch nicht mehr adäquat ausgestattet erwiesen. Kurz darauf haben wir deshalb in unseren Räumlichkeiten ein neues, modernes Notfallzentrum eingerichtet mit mehr Platz und einer eigenen Notstromversorgung. Gleichzeitig haben wir daran gearbeitet, unsere Datenbasis für ausländische Anlagen weiter auszubauen, um im Notfall möglichst schnell erste Einschätzungen treffen zu können.