Dossier: Der Reaktorunfall von Tschernobyl
Der Ablauf und Ursachen des Reaktorunfalls
Zum Zeitpunkt des Unfalls befanden sich am Kernkraftwerk Tschernobyl vier Reaktorblöcke der sowjetischen Baulinie RBMK (Reaktor Bolschoi Moschtschnosti Kanalny) in Betrieb. RBMK-Reaktoren sind graphitmoderierte Siedewasser-Druckröhrenreaktoren mit auch damals schon bekannten schwierigen physikalischen Eigenschaften.
Der Unfall am Kernkraftwerk Tschernobyl ereignete sich, als der 4. Block für eine Revision abgefahren werden sollte. Während des Abfahrvorganges war vorgesehen, einen Inbetriebsetzungsversuch nachzuholen. Mit ihm sollten bestimmte Sicherheitseigenschaften für das Not- und Nachkühlsystem überprüft werden.
Während des Versuchs kam es am 26. April 1986 um 1:23 Uhr wegen unvorhergesehener unzulässiger Anlagenzustände zu einem Anstieg der Leistung, der durch die Regelung nicht mehr kompensiert werden konnte. Die eingeleitete Abschaltung per Hand führte durch die Besonderheiten des RBMK-Kerns zu einem extrem schnellen Anstieg der Energiefreisetzung in den Brennelementen, die den Reaktorkern vollständig zerstörte. Die im Brennstoff freigesetzte Energie sorgte auch dafür, dass das umgebende Kühlmittel schlagartig verdampfte. Der so entstandene extreme Druckanstieg im Reaktorkern führte zur Zerstörung des Reaktors und des ihn umgebenden Gebäudes.
Graphitbrand und erste Maßnahmen
Das im Reaktor als Moderator eingesetzte Graphit entzündete sich und es kam zu einem Graphitbrand. Auch auf den angrenzenden Gebäuden kam es durch die herausgeschleuderten Trümmerteile zu verschiedenen Bränden. Nach rund vier Stunden waren die Brände außerhalb des Reaktors gelöscht. Der Versuch, den Reaktorkern mit Wasser zu kühlen, wurde nach zehn Stunden abgebrochen. Die drei anderen Reaktoren wurden abgeschaltet.
Am nächsten Tag begann man damit, den Reaktor über den Einsatz von Hubschraubern mit verschiedenen Materialien zuzuschütten. Dies sollte die Kettenreaktion unterbinden, den Graphitbrand ersticken und die von dem zerstörten Reaktorblock ausgehende Strahlung zumindest teilweise abschirmen.
Unmittelbare Freisetzungen radioaktiver Stoffe in die Umwelt
Durch die Explosion wurde die Reaktorhalle vollständig zerstört. Dabei kam es infolge des Graphitbrands zu einer massiven Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umwelt. Die extreme Hitze des Graphitbrands führte dazu, dass diese Stoffe in große Höhen transportiert wurden. Während des gesamten Zeitraums der Freisetzung von etwa zehn Tagen änderten sich die Wetterbedingungen in der näheren und weiteren Umgebung des Standortes erheblich.
Die freigesetzten radioaktiven Stoffe wurden zunächst in nordwestliche Richtung über Weißrussland bis nach Finnland und in den mittleren und nördlichen Teil von Schweden transportiert. Am 27. April drehte der Wind in westliche Richtung. Der Weg der radioaktiv kontaminierten Luftmassen führte über Polen, Tschechien, Österreich nach Süddeutschland, wo sie zwischen dem 30. April und dem 1. Mai eintrafen. Die Fahne breitete sich anschließend in nordwestlicher Richtung über den westlichen Teil Deutschlands und den Nordosten Frankreichs aus und erreichte am 2. Mai Großbritannien und Schottland.
Während dieser Zeit bildete sich am Unfallort eine weitere Ausbreitungsfahne Richtung Osten aus, die eine schwächere Kontamination bis in den Raum südlich von Moskau verursachte. Die dem Kraftwerk nahegelegene Großstadt Kiew blieb außerhalb der Hauptwege der Ausbreitung. Die Höhe der jeweils örtlich aufgetretenen Kontaminationen resultierte aus der jeweiligen Intensität der Regenfälle (Auswaschen der Radioaktivität aus der Luft), sodass es lokal zu unterschiedlichen starken Belastungen kam.
Ein Sarkophag als provisorischer Schutzmantel
Noch 1986 wurde über den zerstörten Reaktor ein provisorischer Schutzmantel aus Beton und Stahl errichtet: der sogenannte Sarkophag. Wegen der hohen Strahlenwerte konnten nicht alle Bauteile miteinander verschweißt oder verschraubt werden. Sie wurden deshalb zum Teil lediglich aufeinandergesetzt.
In einem Umkreis von 30 Kilometern um das Kernkraftwerk wurde außerdem eine Sperrzone eingerichtet, die auch heute nur mit Genehmigung betreten werden darf.
New Safe Confinement als neue Schutzhülle
Der Sarkophag war für eine Standzeit von rund 30 Jahren konzipiert. Die G7-Staaten, die EU und die Ukraine vereinbarten 1997 deshalb, dass eine neue schützende Hülle über dem zerstörten Reaktor errichtet werden sollte.
Das sogenannte „New Safe Confinement“ (NSC) wurde 2016 über den alten Sarkophag geschoben, um den Austritt von radioaktiven Stoffen für mindestens 100 Jahre einzudämmen und gleichzeitig die Bedingungen für einen kontrollierten Rückbau zu ermöglichen.
Im August 2021 startete nach Erteilung der Betriebsgenehmigung durch die atomrechtliche Behörde SNRIU der reguläre Betrieb des NSC. Geplant war, bis Ende 2023 alle unter der Hülle des NSC befindlichen instabilen Strukturen des alten Sarkophags abzubauen. Die verbliebenen Baustrukturen sowie die drei anderen Reaktorblöcken sollen bis 2065 zurückgebaut sein. Erste Arbeiten und Pläne zum Abbau des Sarkophags, aber auch visuelle und instrumentelle Inspektionen und Strahlungsmessungen wurden zwar begonnen, verzögern sich aber aufgrund des Krieges.
Anlagen zur Konditionierung und Entsorgung
Zwischenlager für Brennelemente: „Interim Spent Fuel Storage Facility“ (ISF)
Eine wesentliche Herausforderung bei der Sanierung des Standorts liegt in der sicheren Entsorgung der radioaktiven Abfälle aus Betrieb und Rückbau. Am Standort gibt es ein Nasslager für abgebrannte Brennelemente - „Interim Spent Fuel Storage Facility“ (ISF-1). Dieses soll durch ein neues Brennelemente-Zwischenlager (ISF-2) ersetzt werden. Das neue Zwischenlager erhielt im April 2021 seine atomrechtliche Genehmigung. Mehr als 21.000 abgebrannte Brennelemente aus den Blöcken 1 bis 3 sollen hier in Betonmodulen für mindestens 100 Jahre trocken gelagert werden. Rund 2.000 der aktuell im Nasslager ISF-1 gelagerten abgebrannte Brennelemente sind bereits in das ISF-2 umgeladen.
Umgang mit flüssigen radioaktiven Abfällen: Liquid Radwaste Treatment Plant“ (LRTP)
Die Anlage zur Konditionierung von flüssigen radioaktiven Abfällen „Liquid Radwaste Treatment Plant“ (LRTP) erhielt ebenfalls 2021 ihre offizielle Betriebsgenehmigung. Die Anlage bereitet die flüssigen Abwässer auf, die während des Betriebs des Kernkraftwerks angefallen sind. Im Jahr 2021 wurden mehr als 4.000 Gebinde behandelter flüssiger Abwässer hergestellt. Nach einer mindestens 28-tägigen Wartezeit können die endlagergerecht vorbereiteten Abfälle in das oberflächennahe Endlager „Engineered Near Surface Disposal Facility“ (ENSDF) für schwach- und mittelradioaktive Abfälle überführt werden. Die Betriebsgenehmigung der Anlage war bereits im Dezember 2014 erteilt worden. Die Betriebsgenehmigung des LRTP war wegen des Krieges zwischen dem 26. April und 15. August 2022 ausgesetzt.
Umgang mit festen radioaktiven Abfällen: Industrial complex for solid radioactive waste management (ICSRM)
Im Industriekomplex für feste radioaktive Abfälle aus der Stilllegung des Kernkraftwerks Tschernobyl sollen feste Abfälle so aufbereitet und verpackt werden, dass sie für eine Endlagerung im ENSDF bereit sind. Ende 2021 startete die letzte Inbetriebnahme-Phase, die sogenannten „hot tests“, für den ICSRM. Dabei wird die Anlage in einem Modus betrieben, der den zukünftigen Bedingungen möglichst nahekommt. Zum Beispiel werden in dieser Phase testweise bereits radioaktive Materialien bearbeitet. Die Arbeiten konnten am 26. August 2022 abgeschlossen werden.
Sobald alle erforderlichen Dokumente erstellt sind, soll die endgültige Betriebsgenehmigung für das ICSRM erteilt werden.
Zentrales Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente (CSFSF)
Im Jahr 2021 wurde innerhalb der Sperrzone zudem das zentrale Zwischenlager (CSFSF) für abgebrannte Brennelemente der Kernkraftwerke Riwne, Südukraine und Chmelnyzkyj bautechnisch fertiggestellt. Das Kernkraftwerk Saporischschja verfügt über ein eigenes Zwischenlager. Container mit abgebrannten Brennelementen wurden im CSFSF bislang noch nicht eingelagert. Das liegt zum einen daran, dass die dafür benötigten Eisenbahnlinie noch nicht fertiggestellt ist, über die die Transporte von den KKW-Standorten nach Tschernobyl stattfinden sollen. Zum anderen standen zuletzt noch Genehmigungen von Seiten der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde aus.
Ukraine-Krieg: Situation auf dem Anlagengelände und in der Sperrzone
Vom 24. Februar bis zum 31. März 2022 befand sich das Gelände des ehemaligen Kernkraftwerks in Tschernobyl und die umliegende 30-km-Sperrzone unter der Kontrolle des russischen Militärs. Beim Eindringen der russischen Truppen in die Sperrzone stieg die an verschiedenen Messpunkten registrierte Ortsdosisleistung teilweise um das bis zu 30-fache der sonst üblichen Werte an, stellten jedoch keine unmittelbare Gefährdung für die dort Anwesenden dar. Die ukrainische Aufsichtsbehörde führte den Anstieg darauf zurück, dass russische Militärfahrzeuge radioaktiv kontaminierten Staub aufgewirbelt hatten. Wie unter anderem die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) mitteilte, soll es auf dem Anlagengelände selbst zu keinen größeren Kämpfen oder Beschädigungen gekommen sein.
Aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen in der weiteren Umgebung der Sperrzone fiel vom 9. bis 14. März die Anbindung des Standortes an das externe Stromnetz aus. Die Anlagen, die auf dem Kraftwerksgelände auf externe Stromversorgung angewiesen sind - zum Beispiel das Nasslager für abgebrannte Brennelemente (ISF-1) - mussten längere Zeit über Notstromdiesel versorgt werden.
Das Betriebspersonal am Kraftwerksstandort arbeitete unter äußerst belastenden Umständen. Der erste Personalwechsel nach der Besetzung fand erst nach vier Wochen Dauereinsatz am 21. März statt. Nach dem Ende der Besatzung ist der reguläre Austausch der Betriebsmannschaft wieder aufgenommen. Dieser gestaltet sich aber weiterhin schwierig, da die direkte Verbindung zwischen Kraftwerk und Wohnort (Slawutytsch) zerstört ist und außerdem durch Belarus führt. Es muss daher ein großer Umweg in Kauf genommen werden. Die Reisezeit zwischen Kraftwerk und Wohnort soll daher ca. 7 Stunden betragen.
Im Zuge der Besatzung ist das Labor in der Sperrzone geplündert und zerstört worden. Die ukrainische Aufsichtsbehörde setzte am 26. April 2022 mehrere Genehmigungen aus, die hauptsächlich Arbeiten der Stilllegung und Konditionierung betreffen. Sie begründete die Entscheidung damit, dass aufgrund der Auswirkungen der russischen Besetzung das Einhalten der Normen und Vorschriften zur nuklearen und Strahlungssicherheit nicht gewährleistet werden könne. Im August 2022 wurden alle Genehmigungen für die Entsorgung radioaktiver Abfälle in Tschernobyl nach gutachterlicher Prüfung wieder erteilt.
Aktuelle Informationen zur kerntechnischen Sicherheit in der Ukraine finden sich in unserem Informationsbereich Ukraine.
Tschernobyl: Arbeiten der GRS
Die GRS befasst sich seit 1986 mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl und dessen Folgen. Dies umfasst sowohl die wissenschaftliche Aufarbeitung des Unfalls als auch die Unterstützung der Behörden vor Ort.
GRS-Experten sammeln Daten zur radiologischen Situation und zu Waldbränden
Seit 2006 entwickelt die GRS zusammen mit ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die „Shelter Safety Status Database“ (SSSDB). In der Datenbank werden Daten zur radiologischen Situation vor Ort gesammelt, die in Zusammenarbeit mit ukrainischen Fachleuten erhoben werden. Mithilfe der Datenbank lassen sich geographisch korrekte Übersichtskarten mit Messwerten sowie dreidimensionale Ansichten des Betriebsgeländes einschließlich des Sarkophags und des New Safe Confinements einsehen. Die Daten umfassen Angaben zu Radionuklidaktivitäten in Grund- und Oberflächenwasser, bodennaher Luft, sogenannte “Waste Dumps“ (Abfallgräber) und auch von Waldbränden.
Die gesammelten Daten zu den Waste-Dumps-Standorten konnten für eine erste Einordnung genutzt werden, als während der Besetzung des Kernkraftwerks Tschernobyl Berichte von erhöhten Strahlungsdosen bei russischen Soldaten nach dem Ausheben von Gräben aufkamen.
In der Sperrzone kam es in den vergangenen Jahren in den trockenen Jahreszeiten immer wieder zu Waldbränden, die im Jahr 2020 ein besonders großes Ausmaß erreichten. Die Brände können dazu führen, dass radioaktive Partikel aufgewirbelt werden und in die Atmosphäre gelangen. In der Datenbank sind insgesamt über Tausend Waldbrände aus dem Zeitraum 1993 bis 2020 erfasst. Die Aktivitätswerte sind in der Datenbank zusammen mit weiteren Parametern abgespeichert, um mögliche Zusammenhänge zwischen den Bränden und belasteter Luft besser untersuchen zu können.
Projekt zum Umgang mit kernbrennstoffhaltigen Materialien in Tschernobyl
In einem Projekt, an dem die GRS zusammen mit der ukrainischen Technischen Sachverständigenorganisation SSTC/NRS arbeitet, soll das Verhalten der kernbrennstoffhaltigen Materialien innerhalb des Sarkophags und die damit zusammenhängenden radiologischen Auswirkungen systematisch analysiert werden.
Diese Arbeiten knüpfen an frühere gemeinsame Untersuchungen zur Überwachung von offenen Kernbrennstoffen im Sarkophag bis zu ihrer Bergung und Endlagerung an. Ebenso sollen damit die Arbeiten zur Analyse von Faktoren fortgesetzt werden, die auf den Zustand des Kernbrennstoffs einen wesentlichen Einfluss haben.