Das Kernkraftwerk Kursk
Das Kernkraftwerk umfasst vier Blöcke Kursk-1 bis -4, wobei die Blöcke 1 und 2 in den Jahren 2021 beziehungsweise 2024 stillgelegt wurden. Die Blöcke 3 und 4 sind seit 1983 beziehungsweise 1985 in Betrieb. Die Blöcke 1 und 2 sowie 3 und 4 wurden jeweils als Doppelblockanlagen konzipiert, teilen sich also bestimmte technische Einrichtungen (Wasserreinigungssysteme und Hilfsanlagen).
Auf dem Anlagengelände befinden sich unter anderem noch ein Kühlteich zur Versorgung der Turbinenkondensatoren und anderer Wärmetauscher, der mit Wasser aus dem Fluss Seim gefüllt wird, sowie ein Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente. Die letzten Brennelemente der abgeschalteten Blöcke 1 und 2 befinden sich derzeit noch in den Abklingbecken der jeweiligen Reaktorgebäude sowie im Reaktorkern von Block 2. Nach zehn Jahren Abklinglagerung ist eine Umlagerung in das Trockenlager am Standort vorgesehen.
Neues KKW Kursk-II
Am rechten Ufer des Seim, gegenüber dem KKW Kursk, wird das neue KKW Kursk-II gebaut. Der russische Staatskonzern Rosatom plant dort die Errichtung von insgesamt vier neuen Druckwasserreaktoren vom Typ WWER-1300/W-510 (WWER-TOI) als Ersatz für die bisherigen RBMK-Anlagen. Die ersten zwei Blöcke befinden sich gegenwärtig im Bau. Mit der Inbetriebsetzung des ersten Blocks soll noch 2024 begonnen werden, im Juni 2024 wurde der erste Brennstoff auf die Anlage geliefert. Da die Inbetriebnahme sich abweichend von der ursprünglichen Planung verzögert, wurde die Laufzeit der RBMK-Blöcke 3 und 4 um fünf weitere Jahre bis 2033 beziehungsweise 2035 verlängert.
Der Reaktortyp RBMK
Bei den im Kernkraftwerk Kursk betriebenen Reaktoranlagen handelt es sich um graphitmoderierte Siedewasser-Druckrohrreaktoren vom Typ RBMK-1000. Die erste Generation dieses Reaktortyps wurde in den 1960er-Jahren mit dem Ziel entwickelt, in einem relativ kurzen Zeitraum mit bekannten und bewährten Komponenten und Systemen viele große Leistungsreaktoren zu bauen.
Beim RBMK lassen sich drei Generationen unterscheiden, wobei die abgeschalteten Blöcke 1 und 2 der ersten, 3 und 4 der zweiten Generation zuzurechnen sind. Größere Bekanntheit erreichte der Reaktortyp durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, der havarierte Block 4 war ein RBMK-1000 der zweiten Generation. Gegenwärtig sind noch an drei Standorten in Russland insgesamt sieben RBMK-1000-Anlagen in Betrieb. Neue Anlagen dieser Baureihe werden nicht mehr errichtet.
Druckrohre statt Reaktordruckbehälter
Der wesentliche Unterschied eines RBMK im Vergleich zu einem herkömmlichen Siedewasser- oder Druckwasserreaktor westlicher Bauart ist, dass er anstelle eines Reaktordruckbehälters über zahlreiche sogenannte Druckrohre verfügt, in denen sich jeweils ein Brennelement befindet. Im Reaktorgebäude befinden sich der Reaktor und die Komponenten des Reaktorkühlkreislaufs sowie die zugehörigen Steuerungs- und Versorgungseinrichtungen. Der Reaktor befindet sich in einer ca. 25 Meter tiefen Grube, deren Wände aus Stahlbeton gefertigt sind.
Der Reaktorkern mit dem Graphitmoderator befindet sich in einer zylindrischen Stahlkammer mit einem Durchmesser von 14,5 Metern und einer Höhe von 9,75 Metern. Die Wanddicke dieser Kammer beträgt 16 Millimeter. Über dem Reaktorkern befindet sich der sogenannte obere biologische Schild, eine zylindrisch-plattenförmige Konstruktion mit einem Durchmesser von 17 Metern und einer Dicke von 3 Metern. Diese bauliche Struktur besteht aus zwei Stahlplatten, von denen die untere mit den Wänden der Stahlkammer um den Reaktorkern verschweißt ist. Zwischen diesen Platten befindet sich eine Mischung aus Beton und Serpentin (einer Gruppe von Gesteinen, die Asbest enthalten).
Aufbau des Reaktorkerns
Die charakterisierenden Auslegungsmerkmale des Reaktorkerns sind einerseits dessen Graphitmoderator, andererseits die im Vergleich zu den meisten Kernreaktoren große Anzahl an Brennelementen und die Verwendung von vergleichsweise niedrig angereichertem Kernbrennstoff (mit einem Anteil an Uran-235 von 2,4 Prozent; in den meisten Kernkraftwerken werden Anreicherungen zwischen 3 – 4 Prozent verwendet).
Der Reaktorkern besteht aus insgesamt 2.488 Graphitsäulen. Jede dieser Säulen verfügt über eine zentrale Bohrung, in der sich entweder die senkrecht angeordneten Druckrohre mit je einem Brennelement, der Reflektorkühlung und Instrumentierung oder aber ein Führungsrohr mit einem Steuerstab befinden. RBMK-Reaktoren weisen 1.661 beziehungsweise 1.693 Druckrohre auf. Die Gesamtzahl der Steuerstäbe beträgt 191 bei den älteren und 211 bei den neueren Anlagen. Druckrohre und Steuerstabführungsrohre durchdringen den oberen und unteren biologischen Schild und sind mit zwei separaten Kühlsystemen verbunden.
Sicherheitstechnische Auslegung
In der ursprünglichen Auslegung des RBMK bestanden gravierende Auslegungsmängel. Es sind hauptsächlich diese grundlegenden Auslegungsmängel, die, verknüpft mit Fehlverhalten des Betriebspersonals, zum Unfall in Tschernobyl geführt haben. Die Grundauslegung der vier Blöcke des KKW Kursk ist mit der des KKW Tschernobyl vergleichbar, wobei vor allem die unten beschriebenen Nachrüstungen bzw. Modifikationen zu signifikanten Verbesserungen der Sicherheit der heute noch betriebenen RBMK-Reaktoren im Vergleich zu der havarierten Anlage in Tschernobyl geführt haben.
Ein prinzipieller Schwachpunkt der Auslegung aller RBMK-Anlagen ist der ungenügende Schutz vor Einwirkungen von außen. Anders als dies bei herkömmlichen Kernkraftwerken in aller Regel der Fall ist, verfügen die Anlagen weder über ein druckfestes Containment, das den Reaktor und die Kühlkreisläufe vollständig umschließt (sog. „primäres Containment“ oder „Sicherheitsbehälter“), noch über ein massives Reaktorgebäude aus meterdickem Stahlbeton (auch als „sekundäres Containment“ bezeichnet) und sind nicht gegen Flugzeugabstürze ausgelegt. Im Bereich der Anlagen gilt daher eine strikte Flugverbotszone. Das Fehlen von Containments der vorbeschriebenen Art erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es bei Einwirkungen von außen, gegen die die meisten Kernkraftwerke in der Welt ausgelegt sind, zu Beschädigungen von sicherheitstechnisch relevanten Komponenten im Inneren der Reaktorgebäude kommt (beispielsweise Lecks an druckführenden Komponenten, Beschädigungen der Brennelemente im Abklingbecken).
Ein weiterer prinzipieller sicherheitstechnischer Nachteil aller RBMK-Reaktoren ist das Vorhandensein großer Mengen Graphits (ca. 1.700 Tonnen). Graphit entzündet sich in Gegenwart von Sauerstoff bei einer Temperatur von etwa 600 Grad Celsius und kann bei Temperaturen oberhalb von rund 900 Grad Celsius mit Wasserdampf reagieren. Die Graphitblöcke in RBMK-Reaktoren werden deshalb mit Inertgas gekühlt und vor dem Kontakt mit Sauerstoff geschützt. Außerdem nimmt Graphit bei Neutronenbestrahlung Energie auf, die unter bestimmten Randbedingungen schlagartig freigesetzt werden kann. Dieser sogenannte Wigner-Effekt war – zusammen mit einer unzureichenden Auslegung der Anlage und Fehleinschätzungen des Bedienpersonals – mit ursächlich für den Unfall im Reaktor im britischen Windscale im Jahr 1957.
Störfall-Lokalisierungssystem
Anders als die RBMK-Reaktoren der ersten Generation, verfügen die im Kernkraftwerk Kursk noch in Betrieb befindlichen Blöcke über ein sogenanntes Störfall-Lokalisierungssystem. Dieses besteht aus druckfesten Räumen, welche den unteren Teil der beiden Reaktorkühlkreisläufe mit den größten kühlmittelführenden Rohrleitungen (zum Beispiel saug- und druckseitige Sammler der Hauptkühlmittelpumpen und Gruppenverteilersammler) umschließen, so dass im Fall eines Lecks in diesem Teil des Kühlkreislaufs der Austritt radioaktiver Stoffe in gewissem Umfang begrenzt werden kann.
Post-Tschernobyl-Modifikationen
Nach dem Unfall in Tschernobyl wurden in allen RBMK-Blöcken Maßnahmen zur Beseitigung von Konstruktionsmängeln durchgeführt, die zu den Ursachen des Unfalls zählten (sogenannte Post-Tschernobyl-Modifikationen). Hierzu gehörten vor allem technische Modifikationen zur Änderung der neutronen-physikalischen Auslegung des Reaktorkerns, wie beispielsweise die Verminderung des sogenannten positiven Dampfblasenkoeffizienten durch Installation fester Absorberstäbe, die einen Teil der bei der Kernspaltung freiwerdenden Neutronen einfangen. Weitere Änderungen betrafen die Konstruktion der Steuerstäbe und ihrer Antriebe sowie des Reaktorschutzsystems. Dazu wurde im Zeitraum 1994–2009 ein umfangreiches Nachrüst- und Modernisierungsprogramm für alle vier Blöcke des KKW Kursk umgesetzt. In ihrer Gesamtheit haben die Post-Tschernobyl-Modifikationen dazu geführt, dass ein Unfallablauf wie der in Tschernobyl nicht mehr denkbar ist.
Der Dampfblasenkoeffizient (auch als “Voidkoeffizient” bezeichnet) ist, vereinfacht ausgedrückt, ein Maß dafür, wie sich die Reaktivität und damit die Leistung eines Reaktors verändert, wenn sich im Kühlmittel Dampfblasen bilden. Herkömmliche Leichtwasserreaktoren, in denen Wasser sowohl als Kühlmittel als auch als Moderator eingesetzt wird, haben einen negativen Dampfblasenkoeffizienten. Das bedeutet, dass sich die Reaktivität verringert, je mehr Dampfblasen sich bilden. Grund dafür ist, dass Wasserdampf aufgrund seiner geringeren Dichte sowohl ein schlechterer Moderator ist als auch weniger Neutronen absorbiert als flüssiges Wasser. In der Summe stehen dann weniger moderierte Neutronen für weitere Kernspaltungen zur Verfügung. RBMK-Reaktoren wiesen in ihrer ursprünglichen Auslegung dagegen einen deutlich positiven Dampfblasenkoeffizienten auf – hier führte die Bildung von Dampfblasen lediglich dazu, dass weniger Neutronen absorbiert werden, während die Moderation durch das Graphit konstant bleibt (das Kühlwasser spielt im RBMK für die Moderation eine untergeordnete Rolle). Die Anzahl der Kernspaltungen und damit die Leistung des Reaktors steigen somit an.
Verbesserungsmaßnahmen nach Fukushima
Nach dem Unfall von Fukushima-Daiichi beauftragte die russische Genehmigungs- und Aufsichtsbehörde Rostechnadzor den Betreiber mit der Durchführung einer detaillierten Sicherheitsüberprüfung, die mit dem EU-Stresstest vergleichbar ist. Im Zuge der Sicherheitsüberprüfung wurden notwendige Verbesserungsmaßnahmen identifiziert und umfassende Aktionspläne vom Betreiber entwickelt. Als eine der wichtigsten Maßnahmen wurde der Schutz vor Wasserstoffexplosionen angesehen. Dazu wurden sogenannte Rekombinatoren eingebaut, in denen freier Wasserstoff mit dem Sauerstoff in der Umgebungsluft zu Wasser umgewandelt wird.
Unter die kurzfristigen Maßnahmen fallen unter anderem die Beschaffung zusätzlicher, mobiler Notfallausrüstung (Dieselgeneratoren, Pumpen), die Analyse von auslegungsüberschreitenden Szenarien, Änderungen in der Notfalldokumentation und ein erhöhtes Intervall von Notfallübungen. Die kurz- und mittelfristigen Maßnahmen wurden im Zeitraum 2012-2020 umgesetzt. Die langfristigen Maßnahmen sollten bis 2023 abgeschlossen werden. Der aktuelle Stand der Umsetzung der Maßnahmen ist der GRS nicht bekannt.
Informationen zur radiologischen Lage
Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) beobachtet und bewertet seit Beginn des Krieges in der Ukraine die radiologische Lage vor Ort und informiert auf seiner Webseite zu möglichen Auswirkungen eines kerntechnischen Unfalls im Kriegsgebiet auf die Bundesrepublik.
Für den Fall einer Freisetzung radioaktiver Stoffe aus dem ukrainischen Kernkraftwerk Saporischschja stellt das BfS fest, dass Schutzmaßnahmen aller Voraussicht nach lediglich Einschränkungen in Bezug auf die Landwirtschaft und die Vermarktung entsprechender Produkte umfassen würden, sofern die Wetterlage überhaupt eine Ausbreitung radioaktiver Stoffe bis nach Deutschland erlaubte.
Für den Fall einer Freisetzung radioaktiver Stoffe aus dem Kernkraftwerk Kursk lässt sich nach Angaben des BfS auf der Grundlage der gegenwärtig vorliegenden Informationen zu dieser Anlage nicht abschließend bewerten, ob weitere Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung erforderlich sein könnten.