© iStock/MinttuFin
Atomium in Brüssel

Laufzeitverlängerung belgischer Reaktoren

Nach der Entscheidung der belgischen Regierung für eine Laufzeitverlängerung der Reaktoren Doel 4 und Tihange 3: Welche Prüfungen und Entscheidungen stehen nun in Belgien an?

Am 18. März hat die belgische Regierung bekannt gegeben, dass sie den Weg für eine Verlängerung der Laufzeiten für die Kernkraftwerke (KKW) Doel 4 und Tihange 3 um weitere 10 Jahre eröffnet. Dieser Entscheidung war eine Prüfung der Versorgungssicherheit nach einem – bislang so gesetzlich festgelegten – vollständigen Atomausstieg im Jahr 2025 durch den belgischen Netzbetreiber Elia vorangegangen. Der Prüfprozess war von der belgischen Regierung nach längerer Debatte bereits im vergangenen Jahr angestoßen worden und stand insofern bislang nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine.

Von der durch die belgische Regierung als „Plan B“ bezeichneten Verlängerung unberührt bleiben die Termine für die endgültige Abschaltung der übrigen belgischen KKW: Die Anlagen Doel 3 und Tihange 2, in deren Reaktordruckbehältern bei Prüfungen im Jahr 2012 Rissanzeigen entdeckt worden waren (weitere Informationen hierzu enthält die Stellungnahme der Reaktor-Sicherheitskommission), sollen in den Jahren 2022 bzw. 2023 stillgelegt werden, die Reaktoren Doel 1 und 2 sowie Tihange 1 im Jahr 2025.

Sofern auch ENGIE Electrabel, die Betreiberin der Anlagen, eine Verlängerung der Laufzeiten für die beiden Anlagen anstrebt, werden umfangreiche Prüfungen und entsprechende behördliche Entscheidungen erforderlich. Die belgische Aufsichts- und Genehmigungsbehörde FANK hat nach entsprechendem Auftrag durch die belgische Regierung ein Konzept vorgelegt, das die Gegenstände, den zeitlichen Ablauf und die Maßstäbe für diese Prüfungen erläutert (vgl. dazu die Pressemitteilung von FANK vom 20.01.22 und das Konzept vom 17.01.22, nur auf Französisch oder Niederländisch).

Ablauf und Maßstab der Prüfungen

Nach Angaben von FANK ist eine zwingende Voraussetzung für einen Weiterbetrieb über das bislang festgelegte Abschaltdatum hinaus, dass die Betreiberin vor diesem Zeitpunkt einen sogenannten „LTO-Aktionsplan“ (vom englischen „long-term operation“ – „Langzeitbetrieb“) vorlegt und dieser von der Behörde genehmigt wird. In einem solchen Plan ist darzulegen, mit welchen technischen und organisatorischen Maßnahmen die Betreiberin

  • die Sicherheit der Anlagen im Hinblick auf ihre Alterung,
  • weitere Verbesserungen der Sicherheit und
  • eine langfristige Verfügbarkeit von qualifiziertem Personal

gewährleistet.

Mit Blick auf den vergleichsweise kurzen Zeitraum, der für die Erstellung des Aktionsplans und die technische Umsetzung entsprechender Maßnahmen bis zu einem eventuellen Weiterbetrieb über 2025 hinaus verbleibt, schlägt FANK vor, dabei zwischen „erforderlichen Anforderungen“ und „möglichen Anpassungen“ zu unterscheiden. Erstere müssten zwingend bis zum Start eines Weiterbetriebs umgesetzt sein, weil sie für die Erfüllung der gesetzlich festgelegten Anforderungen notwendig seien. Für die Umsetzung der „möglichen Anpassungen“, die nicht zwingend erforderlich seien, jedoch die Sicherheit weiter erhöhen würden, könne nach der Auffassung von FANK ein „begrenzter Aufschub“ gewährt werden, ohne dass die Sicherheit beeinträchtigt würde.

Zur Begründung führt FANK zwei Aspekte an. Zum einen sind die oben genannten Maßnahmen an dem aktuell gültigen Regelwerk Belgiens zu bemessen. Der „Königliche Erlass vom 30. November 2011 über die Sicherheitsvorschriften für Kernanlagen“ wurde letztmalig im Jahr 2020 überarbeitet. Die dabei neu formulierten Anforderungen an die technische Auslegung der belgischen Reaktoren zielten dabei laut FANK vor allem darauf ab, das Sicherheitsniveau der älteren Anlagen (Doel 1 und 2 sowie Tihange 1) in Bezug auf „sehr schwere Naturereignisse, sehr seltene extreme Unfälle und deren Kombinationen“ so weit zu erhöhen, dass das entsprechende Niveau von Doel 4 und Tihange 3 erreicht wird. Dementsprechend geht FANK davon aus, dass bei den letztgenannten Anlagen ein „geringerer Aufwand“ erforderlich wäre, um die Anforderungen des Regelwerks einhalten zu können. Zum anderen führt FANK an, dass für diese Reaktoren derzeit keine sicherheitsrelevanten Probleme bekannt seien, die einen Weiterbetrieb über das Jahr 2025 von vornherein ausschließen, sofern die oben genannten „erforderlichen Anforderungen“ erfüllt würden.

Alterungsmanagement für die Laufzeitverlängerung

Ein wesentlicher Teil der eventuell für die Laufzeitverlängerung anstehenden Prüfungen bezieht sich auf das sogenannte Alterungsmanagement. Im Jahr 2025 werden die beiden Reaktoren eine Laufzeit von 40 Jahren und damit ihr sogenanntes „Auslegungs-Alter“ erreicht haben. Dieser Zeitraum bildet die Grundlage für die Annahmen über die voraussichtlichen betrieblichen Belastungen, für die Anlagen technisch ausgelegt wurden. Konkret wurden dabei beispielsweise eine bestimmte Anzahl an An- und Abfahrvorgängen oder Reaktorschnellabschaltungen unterstellt, denen die betreffende Anlage bis zum Erreichen des Auslegungs-Alters ausgesetzt ist. In dem „LTO-Aktionsplan“ wäre nun ausgehend von einer Charakterisierung des Ist-Zustandes der eingesetzten technischen Einrichtungen darzulegen, mit welchen technischen Maßnahmen und betrieblichen Programmen gewährleistet wird, dass die beiden Reaktorblöcke bei den zu unterstellenden Belastungen auch für weitere zehn Jahre sicher betrieben werden können.

Ein Prüfaspekt ist dabei beispielsweise der Zustand des Reaktordruckbehälters (RDB). Die Neutronenstrahlung, die während des Betriebs vom darin befindlichen Reaktorkern ausgeht, führt dazu, dass das Material der RDB-Wand mit der Betriebszeit zunehmend versprödet. Damit einher geht eine zunehmende Empfindlichkeit dieses Materials für plötzliche, starke Temperatur­schwankungen. Solche Temperaturschwankungen können etwa auftreten, wenn während eines Störfalls mit Kühlmittelverlust (d. h. des Wassers, mit dem der Reaktorkern gekühlt wird) kurzzeitig große Mengen an vergleichsweise deutlich kälterem Notkühlwasser in den Reaktor eingespeist werden. Wäre in einem solchen Fall das RDB-Material zu stark versprödet, könnte es zu einem Versagen des RDB kommen. Dies würde zu einem Kernschaden und einer Freisetzung radioaktiver Stoffe führen. Als eine Voraussetzung für die Erteilung einer Genehmigung zur Laufzeitverlängerung wäre deshalb nachzuweisen, dass die Integrität des RDB bis zum Ende der angestrebten Laufzeit sichergestellt ist.

Hierzu sind verschiedene Untersuchungen erforderlich. So wird beispielsweise hinsichtlich der Versprödung auf sogenannte Voreilproben zurückgegriffen. Dabei handelt es sich um Proben des RDB-Materials, die in Probenhalter innerhalb des RDB eingesetzt werden. Durch ihre größere räumliche Nähe zum Reaktorkern sind die Voreilproben einer noch stärkeren Neutronenstrahlung als die RDB-Wand ausgesetzt. Sie können nach ausreichend langer Bestrahlungszeit wieder aus dem RDB entnommen und hinsichtlich ihres Versprödungsgrads labortechnisch untersucht werden, sodass der zukünftige Zustand der RDB-Wand bestimmt werden kann.

Über den RDB hinaus sind auch alle anderen sicherheitsrelevanten technischen Einrichtungen zu prüfen. Dazu zählen beispielsweise weitere mechanische Komponenten, wie die Rohrleitungen der Kühlkreisläufe oder die Dampferzeuger, aber auch bauliche Einrichtungen und Komponenten der Elektro- und Leittechnik.

Für die durchzuführenden Prüfungen und die zu etablierenden Programme zum Langzeitbetrieb gibt es umfangreiche Richtlinien, die insbesondere im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit bei der IAEO entwickelt wurden.

Grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung

FANK geht davon aus, dass im Fall einer Laufzeitverlängerung neben den nationalen atomrechtlichen Verfahren auch eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) durchzuführen wäre. Ziel dieses europarechtlich vorgeschriebenen Prozesses ist es, die potenziellen Auswirkungen eines Vorhabens auf die Umwelt systematisch zu erfassen und zu bewerten. Eine wesentliche Rolle spielt dabei auch die Einbeziehung der Öffentlichkeit und fachlich betroffener Behörden – bei Vorhaben mit potenziell grenzübergreifenden Auswirkungen auch jenen der jeweils betroffenen Nachbarstaaten (ausführlichere Informationen sind u. a. auf der Webseite des Bundesumweltministeriums zu finden).

Zur Begründung verweist FANK unter anderem auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Laufzeitverlängerung für Doel 1 und 2. In der dazugehörigen Pressemitteilung führt das Gericht aus: „Was sodann die Gefahr erheblicher Auswirkungen auf die Umwelt betrifft, muss dieses Projekt nach Auffassung des Gerichtshofs so angesehen werden, dass es hinsichtlich der Gefahren für die Umwelt ein Ausmaß hat, das dem der Erstinbetriebnahme dieser Kraftwerke vergleichbar ist. Folglich muss ein solches Projekt zwingend einer Prüfung in Bezug auf seine Auswirkungen auf die Umwelt gemäß der UVP-Richtlinie unterzogen werden.“

 

[Stand: 24. März 2022]