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Abbruch des Kühlturms des Kernkraftwerks Philippsburg im Jahr 2020 (Quelle: EnBW)

Stilllegung und Rückbau: Der letzte Lebensabschnitt eines Kernkraftwerks

Aktuell befinden sich in Deutschland 27 Kernkraftwerke und sechs Forschungsreaktoren in der Stilllegung. Aber wie läuft eine Stilllegung konkret ab? Welche Verfahren gibt es? Wer ist alles beteiligt und zuständig? Welche Herausforderungen sind damit verbunden? Diesen Fragen geht das folgende Dossier auf den Grund.

Der Begriff „Stilllegung“ bezeichnet den Rückbau eines Kernkraftwerks und umfasst den gesamten Prozess vom Nachbetrieb über die Demontage der Komponenten, den Abbau aller Gebäudeteile bis zum natürlichen Ausgangszustand vor dem Bau der Anlage – der sogenannten „grünen Wiese“. 

Das Kernkraftwerk Niederaichbach, das Versuchsatomkraftwerk Kahl und der Heißdampfreaktor in Großwelzheim zählen zu den Anlagen, die bereits komplett bis zur grünen Wiese zurückgebaut wurden. Ihre Stilllegung ist somit abgeschlossen. Bislang wurden darüber hinaus 31 Forschungsreaktoren vollständig abgebaut. 

Nachbetrieb: die Phase nach dem Abschalten

Wird ein Kernkraftwerk endgültig abgeschaltet und speist keinen Strom mehr in das Versorgungsnetz ein, beginnt die sogenannte Nachbetriebsphase. Obwohl der Reaktor nicht mehr im Leistungsbetrieb ist, müssen während des Nachbetriebs die Schutzziele Unterkritikalität, Wärmeabfuhr und Rückhaltung der Aktivität nach wie vor gewährleistet sein. Deshalb sind beispielsweise die relevanten Systeme zum Beherrschen von Störfallen weiterhin einsatzbereit. Die Anlage unterliegt während dieser Zeit noch der Betriebsgenehmigung.

Die Phase des Nachbetriebs kann mehrere Jahre dauern. Sie endet, sobald der Betreiber eine Genehmigung für die Stilllegung und den Abbau des Kernkraftwerkes hat und in Anspruch nimmt. In dieser Phase können aber bereits konventionelle Anlagenteile, wie z.B. der Generator, demontiert werden.
 

Leitstand für die fernbediente Zerlegung im Kernkraftwerk Obrigheim
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Leitstand für die fernbediente Zerlegung im Kernkraftwerk Obrigheim (Quelle: EnBw/ Uli Deck)

Der Abbau kann beginnen

Bevor ein Kernkraftwerk stillgelegt und abgebaut werden kann, muss der Betreiber dies bei der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde beantragen und genehmigen lassen. Er muss belegen, dass er die Anlage unter Einhaltung aller erforderlichen Vorschriften zum Schutz von Mensch und Umwelt sicher abbaut. 

Mit der Inanspruchnahme  der Stilllegungsgenehmigung beginnt der eigentliche Abbau der Anlage. In allen Bereichen der Anlage werden Messungen durchgeführt und Proben entnommen, um eine detaillierte Übersicht über das radioaktive Inventar des Kernkraftwerks zu erstellen. 

Für den Abbau gibt es verschiedene Herangehensweisen. Früher wurden die Bereiche des Kernkraftwerks zuerst abgebaut, die nicht oder kaum kontaminiert sind. Mittlerweile geht man dazu über, die stärker kontaminierten oder aktivierten Teile zu Beginn teils fernbedient zu demontieren, um das Aktivitätsinventar der Anlage und damit das Gefahrenpotenzial möglichst zügig zu reduzieren. 

1. Dekontamination

Kontaminierte Gegenstände und Räume müssen durch spezielle Reinigungsverfahren wie zum Beispiel durch Sandstrahlen oder Ultraschallreinigung dekontaminiert, d. h. von anhaftenden radioaktiven Partikeln befreit werden. Das abgetragene radioaktive Material wird dabei aufgefangen und für die Endlagerung vorbereitet.

2. Fernbedientes Zerlegen aktivierter Bauteile

Einige Anlagenteile des Kernkraftwerks – wie z. B. der Reaktordruckbehälter – sind durch die Neutronenstrahlung während des Reaktorbetriebs selbst aktiviert, d. h. radioaktiv geworden. Zum Beispiel wandelt sich das im Stahl des Reaktordruckbehälters enthaltene stabile Kobalt-59 durch Neutroneneinfang in das radioaktive Kobalt-60 um. Durch Dekontamination lässt sich dies nicht beseitigen. Da die Demontage von bestimmten Anlagenkomponenten beim Personal zu großen Strahlenbelastungen führen würde, müssen diese Komponenten fernbedient in handhabbare Teile zerlegt werden.

3. Abklinglagerung 

Große, aktivierte Komponenten der Anlage, wie beispielsweise Dampferzeuger, werden vor ihrer Zerlegung mitunter eine zeitlang zwischengelagert, damit die Strahlung abnimmt. Die Anlagenteile lassen sich im Anschluss mit einfacheren Hilfsmitteln und geringerem Strahlenschutzaufwand demontieren. 

4. Abriss

Zuletzt werden dann die Gebäude abgerissen. Deshalb wird man auch die ersten 10 bis 15 Jahre von außen keine Veränderungen an den Kernkraftwerk sehen. Der komplette Prozess der Stilllegung eines Leistungsreaktors dauert in der Regel etwa 15 bis 20 Jahre. 

Stilllegung des Jülicher Forschungsreaktors "Merlin" (FRJ-1)
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Stilllegung des Jülicher Forschungsreaktors "Merlin" (FRJ-1) (Bild: EWN Energiewerke Nord)

Ein Beispiel: Das Kernkraftwerk Obrigheim

Das in den 1960er Jahren in Baden-Württemberg am Neckar gebaute Kernkraftwerk Obrigheim wurde 2005 endgültig abgeschaltet. Bereits ein Jahr zuvor wurde der erste Antrag auf Stilllegung und Abbau des Druckwasserreaktors gestellt. Endes des Sommers 2008 erteilten die Behörden die Genehmigung hierfür; die ersten Abbauarbeiten konnten beginnen. Anlagenteile aus dem Maschinenhaus, wie Turbinen, Generator, Kondensator, Pumpen, Armaturen und Wasserabscheider-Zwischenüberhitzer, konnten abgebaut werden. 

Der Antrag für die zweite Phase des Rückbaus wurde 2008 gestellt und 2011 genehmigt. Er umfasste den Abbau von Anlagenteilen im Reaktorgebäude, darunter Dampferzeuger, Hauptkühlmittelpumpen und Hauptkühlmittelleitungen.

Die darauffolgende dritte Abbauphase beantragte der Betreiber im Jahr 2010. Mit der daraufhin 2013 erteilten Genehmigung konnte der Kern der Anlage – d. h. das Kerngerüst, der Reaktordruckbehälter und das sogenannte biologische Schild – abgebaut werden. Der etwa 135 Tonnen schwere Reaktordruckbehälter wurde im August 2015 in den Zerlegebereich des Reaktorgebäudes transportiert. Dort wurde er innerhalb eines Jahres gut abgeschirmt unter Wasser in acht Metern Tiefe fernbedient per Bandsäge und Plasmabrenner zerlegt. 

Der Antrag für den vierten und noch andauernde Abbauumfang wurde 2015 gestellt und 2018 genehmigt. In diesem Zuge müssen die restlichen Systeme und Anlagenteile, wie beispielsweise die Lüftungssysteme, Lastenaufzüge, die Krananlage im Reaktorgebäude und Teile einer Materialschleuse, abgebaut werden.
Der Rückbau soll bis 2025 abgeschlossen sein. Die Kosten belaufen sich auf rund 600 Millionen Euro, die über die Rücklagen des Betreibers gedeckt werden.
 

Leeres Brennelement-Lagerbecken im Kernkraftwerk Obrigheim, das während des Abbaus als Zerlegebereich genutzt wird
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Leeres Brennelement-Lagerbecken im Kernkraftwerk Obrigheim, das während des Abbaus als Zerlegebereich genutzt wird (Quelle: EnBw/ Uli Deck)

Herausforderung beruflicher Strahlenschutz: Welche Vorkehrungen schützen das Personal vor der Strahlung?

Eine Herausforderung bei der Stilllegung von Kernkraftwerken ist es, die beteiligten Fachkräfte vor möglichen Auswirkungen der ionisierenden Strahlung zu schützen. Abhängig davon, in welchem Bereich die Arbeiten anfallen, tragen die Arbeiter eine Schutzausrüstung. Für den Kontrollbereich eines Kernkraftwerks gelten – egal ob im laufenden Betrieb oder im abgeschalteten Zustand – besonders strenge Strahlenschutzvorschriften. Hier müssen alle Beschäftigten ein Dosimeter tragen, das die Strahlenexposition misst. Behördliche Stellen werten die Dosimeter aus und prüfen, ob die gesetzlichen Grenzwerte eingehalten werden.

Herausforderung Atommüll: Was passiert mit den anfallenden Abfällen?

Beim Rückbau eines Leistungsreaktors fallen etwa 750.000 Tonnen an Reststoffen an. Der größte Teil davon ist nicht radioaktiv belastet. Er kann – sofern er aus einem Kontrollbereich kommt - nach einer Kontrollmessung und anschließender Freigabe durch die Behörde recycelt oder konventionell entsorgt werden. Nur ein bis zwei Prozent der Reststoffe sind radioaktiv belastet und müssen in einem Endlager für radioaktive Abfälle gelagert werden. Da bislang in Deutschland noch kein Endlager zur Aufnahme solcher radioaktiven Abfälle bereitsteht, werden die Abfälle in standortnahen Zwischenlagern untergebracht.

Finanzielle Herausforderung: Wer trägt die Kosten für die Stilllegung?

Die Kosten für den Abbau eines Kernkraftwerks variieren abhängig von der Art der Anlage, der Strategie und der Dauer des Rückbaus. Groben Schätzungen zufolge fallen pro Anlage bis zu einer Milliarde Euro an. Für diesen Betrag kommen die Energieversorgungsunternehmen (EVU) auf. Die Verantwortung für die Zwischen- und Endlagerung liegt in der Hand des Staates. Hierfür haben die EVU finanzielle Mittel in Höhe von rund 24 Milliarden Euro in einen öffentlich-rechtlichen Fonds eingezahlt.

Stilllegung im Ausland: Wissenstransfer als internationale Aufgabe

Nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) wurden seit Beginn der friedlichen Nutzung der Kernenergie weltweit bereits 450 Reaktoren und 150 Anlagen der nuklearen Ver- und Entsorgung außer Betrieb genommen. Laut der Internationalen Energieagentur (IEA) müssen bis 2040 weltweit rund 200 Kernkraftwerke abgeschaltet und rückgebaut werden.

Allerdings verfügen nicht alle Länder über einen Wissens- und Erfahrungsschatz in Sachen Stilllegung. Verschiedene internationale Projekte beschäftigen sich aus diesem Grund damit, Wissen rund um die Stilllegung für Behörden, Ministerien und Forschungsorganisationen verfügbar zu machen.

Die internationalen Arbeitsgruppen tragen dazu bei, offene Forschungsfragen zu beantworten und bilden eine Kommunikationsplattform zum Austausch von Erfahrungen für Länder, die sich zukünftig mit der Stilllegung kerntechnischer Anlagen beschäftigen müssen und dann vor Fragen stehen, die andere Länder bereits beantwortet haben.

Gibt es noch Forschungsbedarf im Bereich der Stilllegung?

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert seit den 1980er Jahren Forschung zum kerntechnischen Rückbau. Seit 2017 werden hierfür jährlich rund acht Millionen Euro veranschlagt. Durch Forschung und Innovationen sollen der Rückbau und die Entsorgung radioaktiver Abfälle möglichst sicher, effizient und ressourcenschonend gestaltet und die Ausbildung hochqualifizierter Fachkräfte unterstützt werden.

Die Stilllegung kerntechnischer Anlagen ist per se kein wissenschaftliches Neuland mehr, trotzdem ergeben sich erhebliche Potenziale für Innovationen zur Effizienzerhöhung eingesetzter Verfahren und Methoden und zur Minimierung radioaktiver Abfallmengen, beispielsweise mit Blick auf eine stärkere Automatisierung (z. B. durch Robotik) und Digitalisierung. 

Im Auftrag des BMBF setzt der Projektträger GRS das Forschungsprogramm für den Rückbau kerntechnischer Anlagen (FORKA) um und übernimmt die Projektbegleitung „Stilllegung, Rückbau und Entsorgung kerntechnischer Versuchsanlagen“. Der Projektträger GRS unterstützt das Ministerium im Controlling sowie in der wissenschaftlich-technischen Begleitung der umfangreichen Stilllegungs- und Entsorgungsprojekte, die das Ministerium finanziert.

Ein Forscherteam der GRS entwickelte beispielsweise im Rahmen eines FORKA-Projekts in Kooperation mit der Uni Köln eine Methode, mit der Reaktorgrafit schnell und zuverlässig charakterisiert werden kann, um eine geeignete Entsorgungsoption zu ermitteln. 

Darüber hinaus befasst sich die Ressortforschung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) mit grundlegenden und aktuellen sicherheitstechnischen Problemstellungen der Stilllegung von kerntechnischen Anlagen.

Forscherinnen und Forscher der GRS untersuchen im Auftrag des Bundesumweltministeriums beispielweise derzeit, ob die bei der Stilllegung eingesetzten Methoden dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen und wo ggf. noch Optimierungspotenzial besteht. In einem anderen Beispiel wird betrachtet, was man aus den abgeschlossenen und weit fortgeschrittenen Stilllegungsprojekten für die zukünftigen Aufgaben in der Stilllegung lernen kann.