© istockphoto.com/ Wirestock
Kernkraftwerk Neckarwestheim mit seinem Hybridkühlturm

Befristeter Weiterbetrieb: Drei deutsche Atomkraftwerke laufen im Streckbetrieb weiter

Die drei letzten noch betriebenen Kernkraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 sollten ursprünglich am 31. Dezember 2022 abgeschaltet und anschließend rückgebaut werden. Doch der völkerrechtwidrige Angriff Russlands auf die Ukraine hat zu erheblichen Preissteigerungen am Gas- und Strommarkt geführt. Der Ausfall vieler französischen Kernkraftwerke und der unzureichende Netzausbau nach Süddeutschland haben die Lage zusätzlich verschärft. Die Gesamtsituation führt unter anderem zu erhöhten Belastungen für die Stromnetze in Deutschland und Europa.

Ausgangslage und Entscheidung für den Weiterbetrieb

Der Stresstest der deutschen Netzbetreiber vom Herbst 2022 ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Weiterbetrieb der Kernkraftwerke ein Baustein ist, um die Netze zu stabilisieren und damit die Sicherheit der Energieversorgung zu erhöhen. Dies liegt vor allem daran, dass sich durch die zusätzliche Stromerzeugung in den Kraftwerken der potenzielle Bedarf an kurzfristigen Stromimporten aus dem Ausland reduziert.

Vor diesem Hintergrund hat Bundeskanzler Olaf Scholz am 17. Oktober 2022 das Wirtschafts-, das Umwelt- und das Finanzministerium gebeten, die rechtlichen Grundlagen für den befristeten Weiterbetrieb der drei verbleibenden kommerziellen Kernkraftwerke zu schaffen. Sie sollen bis spätestens zum 15. April 2023 in Betrieb bleiben. Der Bundestag hat am 9. November über den Entwurf zur Novellierung des Atomgesetzes beraten und am 11. November für seine Annahme gestimmt. 

Um diese Kernkraftwerke geht es: Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2

Bei den drei Kernkraftwerken handelt es sich um Druckwasserreaktoren der sogenannten Konvoi-Baureihe. Das RWE-Kernkraftwerk Emsland wurde 1988 in Betrieb genommen und verfügt über eine elektrische Leistung (netto) von 1.335 Megawatt (MW). Der von der E.ON-Tochter PreussenElektra betriebene Block II des Kernkraftwerks Isar wurde ebenfalls 1988 mit einer elektrischen Nettoleistung von 1.410 MW in Betrieb genommen. Mehrere Jahre in Folge war er – gemessen an seiner Gesamtenergiemenge – der Kernkraftwerksblock mit der höchsten Jahresproduktion weltweit. Der ein Jahr jüngere von EnBW betriebene Kernkraftwerksblock Neckarwestheim 2 verfügt über eine elektrische Leistung von 1.310 MW. 

Das Kernkraftwerk Isar 2 liegt in Niederbayern. Es ist der leistungsstärkste Kernreaktor Deutschlands.
© istockphoto.com/ captamotion
Kernkraftwerk Isar 2 in Niederbayern

Die drei Kernkraftwerke können laut Netzbetreibern – abhängig vom Szenario – bis April 2023 zusätzlich ca. 5 Terrawattstunden (TWh) elektrische Energie liefern. Das entspricht gemessen an den Daten des Statistischen Bundesamtes etwa 1 Prozent der 2021 in Deutschland erzeugten Strommenge. Zum Vergleich: Berlin hat im Jahr 2021 nach Angaben des Berliner Netzbetreibers rund 12,6 TWh verbraucht.

Wie wird der Weiterbetrieb technisch umgesetzt?

Das Gesetz sieht vor, dass kein neuer Brennstoff zum Einsatz kommt. Mit Blick auf die Lieferzeiten von Brennelementen wäre das aktuell auch nicht möglich. Stattdessen sollen die Reaktoren im sogenannten Streckbetrieb gefahren werden. Der Streckbetrieb ist eine gängige und genehmigte Betriebsweise, die beispielsweise vor Revisionen am Ende eines Brennstoffzyklus eingesetzt wird. Im Lauf des Brennstoffzyklus verringert sich der Anteil an spaltbarem Uran im Kernbrennstoff kontinuierlich. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, die Fachleute sprechen hier von „natürlichem Zyklusende“, ist nicht mehr genug Uran vorhanden um 100 Prozent Leistung zu erzeugen. Dadurch sinkt die Leistung danach langsam ab.  

Mit Beginn des Streckbetriebs verliert der Reaktorkern zwar täglich bis zu 0,5 Prozent seiner Leistung (s. Abbildung), insgesamt wird allerdings auf diese Weise zusätzlicher Strom produziert, ohne dass man neue Brennelemente braucht.
 

Der Streckbetrieb wirkt sich auf die Leistung der Reaktorblöcke aus (Quelle: Abschlussbericht Sonderanalysen Winter 2022/2023 der dt. Netzbetreiber)
© Abschlussbericht Sonderanalysen Winter 2022/2023 der dt. Netzbetreiber
Grafik zur Verfügbarkeit der Kernkraftwerke im Streckbetrieb

Wie ist es um die Sicherheit der Kernkraftwerke bestellt?

Die Sicherheit zu prüfen ist in Kernkraftwerken ein fortlaufender Prozess. Das bleibt auch während des Weiterbetriebs der drei Kernkraftwerke der oberste Leitsatz. Welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit ein Kernkraftwerk als „sicher“ gilt, ergibt sich aus den Betriebsgenehmigungen und dem kerntechnischen Regelwerk – allen voran das Atomgesetz und das Strahlenschutzgesetz. 
 

„Da Kernenergie weiterhin eine Hochrisikotechnologie ist, muss eine besonders sorgfältige und zielgenaue Ausgestaltung erfolgen, nicht zuletzt um dem Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit (…) Rechnung zu tragen.“

Atomgesetz (AtG),

19. Novelle 

Der Betreiber eines Kernkraftwerks muss demnach in regelmäßigen Abständen alle sicherheitstechnisch wichtigen Bestandteile der Anlage sogenannten „wiederkehrenden Prüfungen“ (WKP) unterziehen. Beispielsweise werden Notstromdiesel der Reihe nach in wöchentlichem Wechsel getestet, d.h. jeweils ein Diesel pro Woche. Andere Einbauten werden während der jährlichen Revision geprüft, einige in größeren Zeitabständen. Ziel dieser Prüfungen ist es, potenziell sicherheitsrelevante Schäden zeitnah zu erkennen und zu beheben. Die wiederkehrenden Prüfungen werden auch während des Weiterbetriebs planmäßig fortgeführt.

Zusätzlich zu den wiederkehrenden Prüfungen müssen die Betreiber laut Atomgesetz alle 10 Jahre eine periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) durchführen. Ergänzend zu den ständig stattfindenden Sicherheitsprüfungen wird bei der PSÜ aufgezeigt, ob und gegebenenfalls wie sich die Sicherheit der Anlage weiter verbessern lässt. Grundlage dieser Bewertung bilden die Betriebserfahrung der letzten Jahre, die Analyse des Ist-Zustandes der Anlage und ein Vergleich mit dem aktuell gültigen Regelwerk sowie mit dem gegenwärtigen Stand von Wissenschaft und Technik.

Wird bei einer PSÜ Verbesserungspotenzial erkannt, das eine Nachrüstung erforderlich macht, wird diese bei der jährlich stattfindenden Revision durchgeführt.  
Laut Atomgesetz kann auf die PSÜ verzichtet werden, wenn der Betrieb einer Anlage innerhalb der nächsten drei Jahre endgültig eingestellt wird. Für die drei Anlagen wurde von dieser Ausnahme Gebrauch gemacht. Laut der aktuellen Novelle des Atomgesetzes wird für den befristeten Weiterbetrieb der drei Kernkraftwerke keine neue PSÜ verlangt. 

Wie bereiten sich die Betreiber konkret auf den Weiterbetrieb vor?

Die drei Betreiber EnBW, PreussenElektra und RWE haben nach der Entscheidung der Bundesregierung mit der Planung des befristeten Weiterbetriebs begonnen. Alle Stilllegungsaktivitäten sind aufgeschoben und die Personalplanung ist angepasst worden. 

Um die Stromerzeugung zu optimieren, ist geplant Anfang Januar 2023 im Kernkraftwerk Neckarwestheim II die Brennelemente umzuladen und teilweise gegen vorhandene Brennelemente aus dem Lagerbecken auszutauschen. Hintergrund ist, dass sich die Anlage bereits Ende des Jahres 2022 mit einer Leistung von 70 Prozent in einem fortgeschrittenen Streckbetrieb befindet. Mit diesem „aufgefrischten“ Reaktorkern sollen die Stromproduktion bis Ende März ausgedehnt und etwa zusätzliche 1,7 TWh Strom erzeugt werden.  

Auch im Kernkraftwerk Emsland soll der Reaktorkern für den Weiterbetrieb optimiert werden. Hierfür wird der Reaktor im Januar 2023 für circa zwei Wochen vom Netz genommen. Bis April 2023 soll die Anlage rund 1,7 TWh Strom liefern können.

Im Kernkraftwerk Isar 2 wurden im Oktober 2022 Ventile am sogenannten Druckhalter während eines einwöchigen Stillstands der Anlage überholt. Schon nach den bisherigen Planungen sollte die Anlage bis zum 31.12.2022 100 Prozent Leistung erbringen. Der Brennstoff im Reaktorkern enthält deshalb noch ausreichend spaltbares Uran, sodass auch ohne weitere Optimierung noch ein Streckbetrieb bis Mitte April 2023 möglich ist. Umgerechnet entspricht der befristete Weiterbetrieb von Isar 2 einer zusätzlichen Stromerzeugung von etwa 2 TWh.