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KKW Saporischschja

Ein Jahr Krieg in der Ukraine – eine Zwischenbilanz hinsichtlich der kerntechnischen Sicherheit

Am 24.02.2022 begann Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Im Verlauf der Kampfhandlungen auf ukrainischem Territorium waren Kernkraftwerke, nukleare Forschungseinrichtungen und andere Anlagen zum Umgang mit bestrahlten Brennelementen oder sonstigen radioaktiven Stoffen wiederholt direkt oder indirekt Ziel militärischer Aktivitäten – ein Novum in der Militärgeschichte, das in Fachkreisen der Reaktorsicherheit auf Unverständnis stößt. Die wichtigsten Geschehnisse der letzten zwölf Monate sind im folgenden Text zusammengefasst.

Besetzung des KKW Tschernobyl

Am ersten Tag der Invasion fielen russische Truppen von belarussischem Gebiet in den Norden der Ukraine ein, um Richtung Kiew vorzustoßen. Dabei nahmen sie das unweit der Grenze gelegene, stillgelegte Kernkraftwerk Tschernobyl und die das Kraftwerk umgebende Sperrzone mit seinen diversen Lagern von radioaktiven Stoffen ein und hielten beides bis Anfang April besetzt. Die militärische Präsenz und Kontrolle über den Standort führte zu einer Ausnahmesituation, die direkte Auswirkungen auf den Betrieb und das Personal der Anlage hatte.

Panzer auf dem Gelände des KKW Tschernobyl

Durch die Truppenbewegungen auch mit schwerem Gerät wurde radioaktiver Staub aufgewirbelt, sodass die Messwerte der Ortsdosisleistung im Bereich der Anlage stellenweise stark anstiegen – in der Spitze von ursprünglich ca. 3 Mikrosievert/Stunde (μSv/h) auf ca. 93 μSv/h.

Die Auswirkungen blieben aber auf die Sperrzone beschränkt; in Deutschland wurden keine erhöhten Werte gemessen.

Zerstörung von Messeinrichtungen, Computersystemen und Laboratorien

Beschädigte Computersysteme am Standort Tschernobyl

Durch die Zerstörung der Messeinrichtungen war die Online-Überwachung über einen längeren Zeitraum nicht möglich. Weitere Beschädigungen betrafen insbesondere Computersysteme und Laboratorien. 

Aufgrund der Kampfhandlungen wurde zudem die Stromanbindung der Anlage an das Landesnetz teilweise über mehrere Tage unterbrochen. Wirklich bedrohlich waren diese Situationen allerdings nicht, da die sicherheitsrelevanten Systeme der Anlage über Notstromdiesel versorgt werden können. Selbst bei Ausfall aller Notstromdieselaggregate ist beim derzeitigen Zustand des Standortes nicht von einer schnellen und größeren Freisetzung von Radioaktivität auszugehen, da das nukleare Inventar seit mindestens 20 Jahren zerfällt und das bei einem Reaktorunfall wesentlich zur Strahlenbelastung beitragende Isotop Jod-131 fehlt.

Ein weiterer sicherheitsrelevanter Punkt war die physische und psychische Belastung, der das Personal ausgesetzt war, das unter russischer Befehlsgewalt arbeiten musste. Zudem konnten die Schichtwechsel des Personals über mehrere Wochen nicht stattfinden, da die Anbindung zum Hauptwohnort Slawutitsch, die streckenweise über belarussisches Gebiet führt und mehrfach die Frontlinie kreuzte, zerstört wurde.

Überfall des KKW Saporischschja

Etwa eine Woche später, in der Nacht zum 4. März 2022, nahm die russische Armee das am Dnepr gelegene KKW Saporischschja ein. Dabei kam es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen den angreifenden russischen Truppen und den das KKW verteidigenden Einheiten der ukrainischen Nationalgarde.

Militärische Auseinandersetzung am KKW Saporischschja

Ein Schulungsgebäude neben dem Gelände des KKW geriet dabei in Brand, eine Artilleriegranate traf ein Nebengebäude von Block 1 und weitere Granaten landeten im Bereich des Zwischenlagers für bestrahlte Brennelemente.

Das russische Militär hat seitdem die Kontrolle über das Standortgelände.

KKW Saporischschja stand mehrfach unter Beschuss

Einschlagstelle auf dem Anlagengelände

In den ersten Monaten nach der Besetzung stand das KKW Saporischschja mehrfach unter Beschuss, es kam zu Raketeneinschlägen und Artillerietreffern.

Dabei wurden jedoch keine sicherheitsrelevanten Anlagenteile oder Gebäudestrukturen in ihrer Funktionalität beeinträchtigt.

Zudem war die Anlage durch den Beschuss der Stromleitungen mehrfach für längere Zeit vom Landesnetz getrennt, sodass die sicherheitsrelevanten Komponenten autark mit Strom versorgt werden mussten. Dies geschah teils über die Notstromdiesel, teils über den sogenannten Inselbetrieb, bei dem ein Block bzw. mehrere Blöcke so weit heruntergefahren werden, dass sie die gesamte Anlage mit Strom versorgen. Letzteres ist seit dem 12. September 2022 nicht mehr möglich, da der damals letzte noch in Betrieb befindliche Block 6 in den sogenannten Zustand „heiß unterkritisch“ überführt wurde.

Blöcke 1–4 entladen, 5 und 6 im Zustand „heiß unterkritisch“

Heute sind die Blöcke 1–4 im Zustand kalt und entladen, die Blöcke 5 und 6 werden im Zustand „heiß unterkritisch“ betrieben. Heiß unterkritisch heißt, dass keine nukleare Kettenreaktion im Reaktor stattfindet und nur die Abwärme der laufenden Pumpen genutzt wird, um den Kraftwerksstandort und die nahegelegene Stadt Enerhodar mit Wärme zu versorgen. Der Kraftwerksstandort benötigt in diesem Zustand ca. 100 MW Strom, um die notwendigen Kühl- und Sicherheitsfunktionen sicherzustellen. Dieser Strom wird aus dem ukrainischen Netz bezogen.

Einen weiteren sicherheitsrelevanten Aspekt stellt die prekäre Situation des Betriebspersonals am KKW Saporischschja dar, welches täglich unter dem Besatzungsdruck und der Kriegssituation – die Mitarbeitenden und deren Familien wohnen im nahe gelegenen Enerhodar, welches ebenfalls von den russischen Truppen besetzt ist – funktionieren muss. Seit dem 5. Oktober 2022 gehört das KKW zudem nach russischem Gesetz einer Standortgesellschaft des russischen Staatskonzernes Rosatom; nach ukrainischem Gesetz ist das Kraftwerk nach wie vor in Besitz des Betreiberunternehmens Energoatom. Da viele ukrainische Angestellte das Kraftwerk verlassen haben, wird die Betriebsmannschaft sukzessive durch Personal aus verschiedenen russischen KKW ersetzt. Die ukrainische Aufsichtsbehörde hat mittlerweile allen sechs Blöcken die Betriebsgenehmigung entzogen.

Weitere vom Krieg betroffene kerntechnische Einrichtungen

Neben den KKW Saporischschja und Tschernobyl sind auch die anderen kerntechnischen Einrichtungen der Ukraine direkt oder indirekt Ziel militärischer Aktivitäten gewesen. Gerade die flächendeckenden russischen Raketenangriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur ab Frühherbst 2022 stellen für die Kernkraftwerksstandorte ein latentes Gefahrenpotenzial dar. Durch die Zerstörung von Umspannwerken und Übertragungsleitungen kam es zu teilweisen oder vollständigen Abschaltungen des ukrainischen Landesnetzes, das auch die mehrfache Schnellabschaltung von KKW-Blöcken zur Folge hatte. In diesem Zusammenhang wurde an den Standorten Südukraine und Chmelnyzkyj mehrfach der Notstromfall herbeigeführt, die Nachzerfallswärmeabfuhr aus den Reaktoren musste über die standorteigenen Notstromdiesel energetisch sichergestellt werden. Auf dem Industriegelände des Kernkraftwerks Südukraine schlug eine Rakete ca. 300 Meter von den Reaktoren entfernt ein.

Kriegsbedingte Beeinträchtigungen, Beschädigungen oder Zerstörungen gab es auch an

  • einigen der fünf RADON-Lager, in denen schwach- und mittelradioaktive Abfälle gelagert werden, insbesondere an einem Lager im Südwesten Kiews,
  • am Forschungsreaktor in Kiew sowie
  • an der unterkritischen Versuchsanlage in Charkiw.

Vor allem bei der Versuchsanlage sind zu Beginn des Krieges infolge mehrfachen Beschusses Gebäudestrukturen erheblich beschädigt worden. Radiologische Auswirkungen gab es keine, da die Anordnung stillgelegt ist und die Brennelemente gebunkert aufbewahrt werden. Auch beim Forschungsreaktor in Kiew, der indirekt durch Beschuss betroffen war, sowie bei den RADON-Lagern waren keine Sicherheitsbarrieren beeinträchtigt.

IAEA um Deeskalation und Vermittlung bemüht

Hervorzuheben ist im Zusammenhang mit der kerntechnischen Sicherheit in der Ukraine das Engagement der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA, die sich um Deeskalation und Vermittlung zwischen den beiden Kriegsparteien bemüht. Unter anderem hat sie an mittlerweile sämtlichen KKW-Standorten in der Ukraine Expertenmissionen installiert, welche die Lage als unabhängige Beobachter überwachen sollen. Die IAEA betont zudem immer wieder, dass es unverantwortlich ist, dass militärische Auseinandersetzungen in der Nähe von Kernkraftwerken stattfinden. Die angestrebte Einrichtung einer entmilitarisierten Zone rund um das KKW Saporischschja konnte trotz mehrfacher Verhandlungen jedoch noch nicht realisiert werden.