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GRS-Experte Martin Sonnenkalb

Fukushima: Interview mit dem GRS-Experten Dr. Martin Sonnenkalb

Die Sicherheitsforschung für kerntechnische Anlagen ist einer der Arbeitsschwerpunkte der GRS. Insbesondere mit dem Reaktorunfall in Fukushima beschäftigen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit mehreren Jahren. Einer der Fachleute auf diesem Gebiet ist Dr. Martin Sonnenkalb, Leiter der Abteilung Containment. Er und sein Team befassen sich, vereinfacht gesagt, mit den Abläufen, die während Störfällen im Sicherheitsbehälter (Containment) eines Kernkraftwerks ablaufen. Mit ihm sprechen wir anlässlich des 7. Jahrestages des Reaktorunfalls in Fukushima unter anderem darüber, was Aufnahmen aus dem Inneren der Reaktorgebäude mit seiner Arbeit zu tun haben.

Hallo Herr Sonnenkalb. Gerade sind Sie aus Paris zurückgekommen, wo Sie sich zusammen mit Vertretern anderer internationaler Fachorganisationen zum Reaktorunfall in Fukushima getroffen haben. Worum ging es da genau?

Konkret ging es um das Abschlusstreffen eines OECD/NEA-Vorhabens (Anmerkung: Es handelt sich um die „BSAF - Benchmark Study of the Accident at the Fukushima-Daiichi NPP“, die von der Kernenergieagentur der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD/NEA, beauftragt wurde). In diesem Vorhaben werden die Unfallabläufe in den Kernkraftwerksblöcken am Standort Fukushima-Daiichi in Japan mit verschiedenen Simulationsprogrammen analysiert.

Mithilfe dieser Analysen sollen detaillierte Erkenntnisse gewonnen werden, unter anderem zu den Zerstörungen an den Reaktoren, den Materialumlagerungen im Inneren der Reaktoren und zu den Freisetzungen radioaktiver Stoffe, um damit die Planungen für den Rückbau der Anlagen in Japan zu unterstützen. Ein zweiter Schwerpunkt ist, neue Erkenntnisse über Unfallabläufe speziell in Siedewasserreaktoren zu gewinnen und damit mögliche Defizite in den eingesetzten Simulationsprogrammen zu reduzieren. Dazu werden beispielsweise die Erkenntnisse aus den Inspektionen, die von TEPCO vor Ort durchgeführt werden, genutzt und Anforderungen an Probenahmen und Inspektionen während des Rückbaus formuliert.

Warum ist es wichtig zu wissen, wie der Unfall abgelaufen ist?

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Wie auch nach den Unfällen in Three Mile Island (Anmerkung: kurz TMI) 1979 und Tschernobyl 1986, möchte man über die Nachanalyse der Unfälle genaue Kenntnisse über die auslösenden Ereignisse und die für jeden Reaktortyp individuellen Abläufe gewinnen, um ein mögliches Auftreten gleicher Schäden in ähnlichen Anlagen zukünftig vermeiden zu können. Zum anderen hat man das wissenschaftliche Interesse, unsichere oder noch unbekannte Ereignisse im Ablauf von Unfällen genauer zu erkennen, um dann fehlende Modelle in den Simulationsprogrammen zu entwickeln. Einen Unfallablauf mit Hilfe von Experimenten abzubilden wird umso schwieriger, je weiter man sich von dem Originalzustand einer Anlage entfernt. Kommen auch noch Spaltprodukte ins Spiel, wird es nochmal schwieriger, derartige Abläufe realitätsnah experimentell zu untersuchen. Daher sind Erkenntnisse, die man aus Unfällen wie in TMI, Tschernobyl oder Fukushima gewinnen kann, sehr wertvoll. Was natürlich nicht heißt, dass wir als Wissenschaftler uns so etwas wünschen, ganz im Gegenteil.

Sie prüfen im Rahmen des Expertenaustausches in dem OECD/NEA-Vorhaben auch Ihre Simulationsprogramme. Wie muss man sich das vorstellen?

Wir sind Teilnehmer aus verschiedenen europäischen Ländern. Aber auch Vertreter von Organisationen aus Amerika, Korea und Japan sind dabei. Im OECD/NEA-Vorhaben kommen vier oder fünf unterschiedliche Simulationsprogramme zum Einsatz, die alle die gleiche Zielstellung haben, nämlich einen Unfallablauf in einem Kernkraftwerk zu berechnen. Jeder der Teilnehmer versucht, mit seinem Tool den Unfallablauf bestmöglich zu simulieren. Dazu werden verfügbare Messwerte und bekannte Ereignisse aus dem Ablauf in der Anlage zum Vergleich herangezogen um zu zeigen, dass das, was man berechnet hat, plausibel ist und dass die Berechnungen des Simulationsprogramms im Wesentlichen das wiederspiegeln, was in der Anlage vorgefunden wurde. Mit jeder neuen Erkenntnis aus einer Anlageninspektion in einem der Blöcke in Fukushima-Daiichi ließ sich bisher das mögliche Spektrum des Unfallablaufes weiter eingrenzen.

Dieser Abgleich gelingt für jeden der drei zerstörten Blöcke in Fukushima-Daiichi unterschiedlich gut oder schlecht. Und jeder der drei Unfallabläufe hat spezifische Phasen oder Ereignisse, wo die Ergebnisse der Analysen teilweise noch weit streuen. Zum einen, weil die Modelle noch nicht detailliert genug sind. Zum anderen, weil sich die Meinungen darüber, was während des Unfalls tatsächlich abgelaufen ist, teilweise noch nicht verfestigt haben und die Messwerte aus der Anlage wegen der nahezu komplett ausgefallenen Spannungsversorgung lückenhaft sind.

Also könnte man sagen, dass die Daten aus dem Unfall dabei helfen, die Rechenmodelle zu optimieren?

Richtig, das ist das zweite Ziel des OECD/NEA-Vorhabens. Man will Modelldefizite in den Simulationsprogrammen möglichst beseitigen und die Modelle erweitern und verbessern. Dazu will man Erkenntnisse nutzen, die aus dem Rückbau der Anlagen oder, im Moment, aus den Inspektionen im Inneren der Anlagen, zu Tage treten. Dabei bringt jede neue Inspektion mindestens eine neue Überraschung, wie zum Beispiel das Auffinden eines weitgehend intakten Brennelement-Kopfes im Raum unter dem Reaktordruckbehälter (Anmerkung: kurz RDB) von Block 2 im Januar dieses Jahres.

Dieses Teil eines Brennelements, das sie gerade ansprechen, war auf einer Bildaufnahme deutlich erkennbar, die TEPCO von der Inspektion im Block 2 veröffentlicht hatte. Inwieweit helfen solche Daten bei Ihrer Arbeit?

Sie beeinflussen unsere Arbeit insofern, als dass sie dazu beitragen, gewisse Unfallszenarien auszuschließen aber auch gewisse Annahmen zu verfestigen.  Der Fund des Brennelement-Kopfes in Block 2 war beispielsweise ein Ereignis, das wir bisher nach unseren Analysen nicht auf dem Schirm hatten. Also, dass sich tatsächlich so relativ gut erhaltene Strukturen außerhalb des RDB im Containment wiederfinden, wurde bisher für eher unwahrscheinlich gehalten, denn das bedingt eine relativ große Öffnung am RDB, durch die das Teil durch muss. Und das Gleiche trifft im Prinzip auch bei Block 3 zu, wobei die dort gewonnenen Erkenntnisse aus der Auswertung der Inspektion vom Sommer 2017 eigentlich noch ein bisschen kurioser sind. Da hat man unterhalb des RDB zwei eindeutig zuordenbare Teile der Steuerstabschutzrohre mit Steuerstabantriebsstangen mit einem Durchmesser von etwa jeweils 20 Zentimetern gefunden. Diese sind normalerweise im unteren Teil des RDB angeordnet und müssen nach dessen Versagen ebenfalls durch eine Öffnung in das Containment gelangt sein.

Welche Fragen stellt man sich aktuell noch?

Wir haben verschiedene offene Fragestellungen. Eine zentrale Frage ist die nach dem Grad der Kernzerstörung. Sie wird so lange offen bleiben, bis man erstmalig oben in den RDB reinschauen kann. Die prinzipiellen Vorstellungen dazu gehen aber nicht mehr weit auseinander: Die Reaktorkerne in Block 1 und Block 3 sind massiv zerstört, bei Block 1 wahrscheinlich am stärksten. Bei Block 2 am wenigsten – wobei “am wenigsten“ relativ ist. Zur Frage des Austrages von Kernschmelze aus dem Reaktordruckbehälter in das Containment war bisher auch klar, dass das in Block 1 mit Sicherheit in großem Maße erfolgt ist, auch wenn es da noch keine Bilder gibt. In Block 3 hat sich durch die Aufnahmen aus dem Sicherheitsbehälter vom Sommer im letzten Jahr bestätigt, dass dort auch eine sehr massive Zerstörung und Schmelzeumlagerung in das Containment stattgefunden hat. In Block 2, wie gesagt, war man sich bislang nicht sicher, ob es zu Materialumlagerungen gekommen war.

Wie läuft es ab, wenn Sie die Simulationsprogramme mit neuen Zahlen, Daten, Fakten „füttern“?

Wenn wir neue Informationen kriegen, sofern das nicht dezidierte Ereignisse sind – „Venting des Containments hat um 7.43 Uhr stattgefunden“ beispielsweise – kann der Mitarbeiter mit diesen Zahlen sein Computerprogramm nicht direkt „füttern“, sondern er nimmt die gemessenen Verläufe oder Werte als Vergleichspunkte auf, um seine Rechenergebnisse damit zu vergleichen. Und die „Eingabe von Zahlen“ hat ganz am Anfang stattgefunden, wenn man die Geometrie der Anlage (Anmerkung: Durchmesser des Reaktors, Anzahl der Brennelemente und Druck- und Temperaturangaben etc.) im Simulationsprogramm abbildet.

Der Zeitbereich, über den wir die Unfallabläufe analysieren wollen, liegt im Moment bei drei Wochen – beginnend ab dem 11. März 2011. Die eigentliche Berechnung im Simulationsprogramm kann dann einige Tage bis hin zu Wochen dauern. Das hängt auch davon ab, wie detailliert ein Modell aufgebaut wird, wie leistungsfähig das Programm ist und auch, welche Vorgänge berechnet werden. Die Berechnung der Kernzerstörungsphase dauert beispielsweise immer etwas länger.

Und was passiert mit dem Simulationsprogramm, wenn es fertiggestellt ist?

Ein Simulationsprogramm ist nie komplett fertiggestellt. Diese Rechenprogramme obliegen in der Regel immer der Weiterentwicklung, numerisch aber auch inhaltlich. Und wie ich schon sagte, beim Ablauf von schweren Unfällen mit Kernzerstörung gibt es in der späten Phase schon noch eine ganze Reihe von nicht vollständig klaren Abläufen und Phänomenen, wo wir durch neue Erkenntnisse aus dem Rückbau oder aus weiteren Experimenten Lücken schließen und Modelle verbessern können. Ein anwendungsbereites Produkt liegt in der Regel immer vor, es wird dann nur weiter verfeinert und verbessert.

Wann waren Sie zuletzt in Fukushima?

Ich war 2015 zwei Mal in Fukushima. Einmal mit einer OECD-Expertengruppe, die sich mit offenen Fragen in der Forschung zu schweren Unfällen beschäftigt. Genauer gesagt damit, welche Informationen aus dem Rückbau der Anlagen gewonnen werden sollten, die uns dabei helfen können, unsere Wissenslücken zu schließen. Da hatten wir die Gelegenheit, natürlich unter Einhaltung der massiven Strahlenschutzvorschriften auf dem Anlagengelände, das Turbinenhaus in Block 1 zu betreten. Die Eindrücke vom schweren Grad der Zerstörung, von den Wassermarkern, die man an den elektrischen Schaltschränken auf zwei Metern Höhe gesehen hat, dem eingedrückten Einfahrtstor und natürlich den vielen kaputten Behältern, die durch das Meerwasser zerstört und verschoben worden sind, bleiben einem unvergessen. Da wird einem, auch wenn man es auf Fotos oft gesehen hat, noch einmal richtig bewusst, welche Kräfte dort durch den Tsunami gewirkt haben.

Bei einem weiteren Besuch im Rahmen des OECD/NEA BSAF Vorhabens konnten wir Block 5 inspizieren, der nicht zerstört wurde. Wir wollten vor allem wissen, wie es im Inneren des Containments aussieht und beispielsweise wie der Reaktor von unten aussieht. Wir sind dann zwei Stunden unter Vollschutz im Sicherheitsbehälter unterwegs gewesen, damit man auch eine räumliche Vorstellung hat, wenn man dann später sein Rechenmodell aufstellt. Insbesondere dieser Besuch war für die analytischen Arbeiten sehr wichtig.

Vielen Dank für das Interview!