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Umspannwerk

Was passiert bei einem Netzausfall?

Der Einmarsch russischer Truppen auf das Staatsgebiet der Ukraine Ende Februar 2022 wirkt sich auch auf den sicheren Betrieb kerntechnischer Anlagen in der Ukraine aus. Insbesondere das Kernkraftwerk (KKW) Saporischschja, das seit dem 04.03.2022 von russischen Truppen besetzt ist, war immer wieder Kampfhandlungen ausgesetzt, wobei das Anlagengelände sowie nicht sicherheitsrelevante Teile der Anlage beschädigt wurden. Als Folge solcher Kampfhandlungen wurde bereits mehrfach die Anbindung des KKW an das Stromnetz unterbrochen. Ein solches Szenario, das die Sicherheit eines KKW gefährden kann, ist auch für die anderen in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke vorstellbar, wenn nämlich das Landesnetz der Ukraine oder Teile davon zusammenbrechen bzw. das KKW seine Netzanbindung verlieren sollte.

Wie sieht die Stromversorgung in der Ukraine derzeit aus?

Die Ukraine befand sich zu Beginn der russischen Invasion im Hinblick auf ihre Stromversorgung in einem sogenannten „Inselbetrieb“. Das heißt, sie war mit ihrem landesweiten Stromnetz nicht mit den Stromnetzen ihrer Nachbarländer verbunden. Dadurch war es beispielsweise nicht möglich, elektrische Energie aus den Nachbarländern zu importieren. Seit Ende März ist das ukrainische mit dem europäischen Verbundnetz synchronisiert; allerdings sind die Strommengen, die im- bzw. exportiert werden können, auf ca. 300 bis 400 Megawatt (MW) limitiert.

Generell lässt sich sagen, dass ein Stromnetz umso stabiler ist, je größer es ist und je mehr Versorgungseinheiten in dieses Stromnetz einspeisen. Eventuelle Schwankungen können dann besser aufgefangen werden. So können beispielsweise Ausfälle einzelner Kraftwerke durch andere Versorgungseinheiten ausgeglichen werden. Ein Blackout in der Ukraine wäre durch die beschränkten Importmöglichkeiten also nur bis zu einem gewissen Grad zu verhindern.

Die ukrainischen KKW deckten nach Angaben der Internationalen Energie Agentur (IEA) mit einer jährlich erzeugten Strommenge von ca. 75 Terawattstunden (TWh) vor Beginn des Krieges deutlich über die Hälfte des dortigen Stromverbrauchs (ca. 135 TWh in 2019). Allerdings ist das größte KKW des Landes Saporischschja mit seinen sechs Blöcken derzeit komplett vom Netz, insgesamt speisen 9 der 15 KKW-Blöcke an den Standorten Chmelnyzkyj, Riwne und Südukraine Strom in das Landesnetz ein (Stand 08.11., aktuelle Infos finden sich hier).

Was passiert, wenn ein KKW nicht mehr mit einem funktionierenden Stromnetz verbunden ist?

Käme es zu einem Ausfall des ukrainischen Stromnetzes, könnten die in Betrieb befindlichen ukrainischen Kernkraftwerke weder den von ihnen erzeugten Strom in das Stromnetz einspeisen noch selbst elektrische Energie für den Eigenbedarf (insb. zur Nachkühlung nach einer Abschaltung) aus dem Stromnetz beziehen – wie es am Standort Saporischschja schon mehrfach vorgekommen ist. Damit ergeben sich für die ukrainischen Kernkraftwerke unterschiedliche Abläufe, je nachdem ob sich die Anlage zum Zeitpunkt des Stromnetzausfalles im Leistungsbetrieb befindet oder nicht.

Szenario 1 – Anlage befindet sich bei Ausfall des Stromnetzes bzw. Verlust der Netzanbindung im Leistungsbetrieb

Generell besteht für alle in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke in der Ukraine die Möglichkeit eines sogenannten Lastabwurfs auf Eigenbedarf. Dabei käme es aus dem Leistungsbetrieb heraus zu einer Trennung der Anlage vom Stromnetz und zu einer schnellen Leistungsreduktion. Das KKW würde bei verringerter Leistung weiter betrieben und genau so viel Energie erzeugen, dass die betriebsnotwendigen und sicherheitsrelevanten Systeme (Pumpen u. ä.) weiterhin versorgt werden können.

Die Frage, wie oft ein solcher Lastabwurf auf Eigenbedarf in der Praxis erfolgreich ist, lässt sich nicht so einfach beantworten. Bei mindestens einem der Blöcke in Saporischschja hat es in der Vergangenheit immer funktioniert. Für deutsche KKW kann man aus der Betriebserfahrung heraus sagen, dass ein solcher Lastabwurf auf Eigenbedarf in ca. 70 % der Fälle erfolgreich ist.

Ein dauerhafter Betrieb nur mit Eigenbedarfserzeugung ist in den Anlagen russischer Bauart nicht vorgesehen. Da der Reaktor mit einer Mindestlast von ca. 30 % betrieben wird, der Eigenbedarf aber nur ca. 6 bis 10 % beträgt, muss der überschüssige sehr heiße Dampf direkt in den Kondensator eingeblasen werden, was dort auf Dauer zu Schäden führt. Außerdem neigen Turbinen bei so geringer Leistung zu mechanischen Schwingungen ihrer Wellen, die mit der Zeit zunehmen und zur Beschädigung der Turbine führen können. Im KKW Saporischschja wurde Block 6 im September etwa eine Woche lang auf Eigenbedarf gefahren.

Gelingt der Lastabwurf auf Eigenbedarf nicht, kommt es zu einer Turbinen- oder einer Reaktorschnellabschaltung. Um den Reaktorkern dann weiter zu kühlen, ist das KKW auf Stromzufuhr von außen angewiesen.

Sofern es sich bei diesem Szenario nicht um einen großflächigen Stromausfall handelt, existieren gegebenenfalls noch weitere Versorgungsmöglichkeiten:

  • Versorgung über einen noch in Betrieb befindlichen Nachbarblock: Dies ist nach derzeitigem Kenntnisstand in allen ukrainischen Kernkraftwerken außer am Standort Riwne möglich.
  • Versorgung über ein in der Nähe der Anlage befindliches konventionelles Kraftwerk, z. B. Gas- oder Wasserkraftwerk: Eine solche Möglichkeit ist nach Kenntnis der GRS im Prinzip für alle ukrainischen Kernkraftwerke außer den Anlagen am Standort Chmelnyzkyj gegeben (das Wärmekraftwerk am Standort Saporischschja ist mit Stand 08.11. seit mehreren Wochen vom Netz; Informationen zur aktuellen Lage finden sich hier).  

Szenario 2 – Anlage ist bei Ausfall der Stromanbindung bereits abgeschaltet oder der Lastabwurf auf Eigenbedarf misslingt

Gelingt der Lastabwurf auf Eigenbedarf nicht oder waren die Anlagen zum Zeitpunkt des Ausfalls nicht in Betrieb, tritt der sogenannte Notstromfall ein. Die Versorgung sicherheitstechnisch wichtiger Verbraucher muss dann über Notstromdieselaggregate erfolgen. Auch hierbei gibt es mehrere Möglichkeiten:

  • Versorgung über fest installierte Notstromdiesel
    Die WWER-1000-Anlagen in der Ukraine haben für jeden Reaktorblock drei Notstromaggregate vorgesehen, von denen jeweils eines alleine die Versorgung der wichtigen Verbraucher eines Blocks gewährleisten könnte. Die Versorgung ist so lange möglich, wie Betriebsmittel (z. B. Dieselkraftstoff, Schmierstoffe) auf dem Anlagengelände vorhanden sind. Für die ukrainischen Anlagen wird nach Kenntnis der GRS ein Betrieb der Notstromdieselaggregate je nach Anlage für eine Dauer von ca. zwei bis zehn Tagen ohne Wartungsmaßnahmen bei ausreichendem Treib- oder Schmierstoffinventar angegeben.

    Zur Verlängerung des Betriebs der Notstromdieselgeneratoren ist es gängige Praxis, dass nicht alle auf dem Anlagengelände vorhandenen Notstromdieselgeneratoren in Betrieb genommen werden, sondern nur so viele, wie im aktuellen Anlagenzustand erforderlich sind (in der Regel einer je zu kühlendem Reaktorblocklock). Dadurch kann der Vorrat an Betriebsmitteln entsprechend sparsam eingesetzt und die Dauer der möglichen elektrischen Energieversorgung über die Notstromdieselgeneratoren verlängert werden.
  • Versorgung über mobile Notstromdiesel
    Die Ukraine hatte sich nach dem Reaktorunfall von Fukushima-Daiichi an den in der EU durchgeführten Stresstests freiwillig beteiligt. Aus dem daraus abgeleiteten National Action Plan (NAcP) wurden für den Fall eines Station Blackout (SBO) in allen Anlagen zusätzlich zu den stationären Notstromdieseln auch mobile Aggregate bereitgestellt.

Notstromdiesel in Saporischschja

Das KKW Saporischschja wurde bereits mehrfach vom Landesnetz der Ukraine getrennt – teils im laufenden Betrieb, teils im abgeschalteten Zustand. Sowohl der Lastabwurf auf Eigenbedarf als auch die Versorgung durch Dieselgeneratoren haben bislang zuverlässig funktioniert.

Am Standort Saporischschja sind insgesamt 20 Notstromdieselgeneratoren (NDG) vorhanden: drei stationäre je Block sowie zwei mobile, von denen jeder zwei Blöcke versorgen kann. Entsprechend dem Bericht zum Stresstest aus dem Jahr 2011, der im Rahmen der ENSREG-Vorgaben nach dem Reaktorunfall von Fukushima-Daiichi erstellt wurde, wurde die Notstromversorgung so nachgerüstet, dass die blockgebundene Notstromversorgung auch blockübergreifend verwendet werden kann. An allen KKW-Standorten mit WWER-1000-Anlagen in der Ukraine, so auch im KKW Saporischschja, sind Dieselgeneratoren vom Typ ASD-5600 installiert, bei denen der Dieselverbrauch bei 233 Gramm/Kilowattstunde (g/kWh) oder ca. 1,3 Tonnen/Stunde (t/h) liegt.

Datenzusammenstellung zu ASD-5600:

  • Nennleistung:                               5.600 Kilowatt (kW)
  • Mindestlast:                                  2.000 kW
  • Spannung:                                    6,3 Kilovolt (kV)
  • Frequenz:                                     50 Hertz (Hz)
  • Verbrauch:                                    233 g/kWh oder 1,3 t/h Treibstoff
  • wartungsfreier Betrieb:                 nicht länger als 240 Stunden (h)

Die 20 NDG sind in insgesamt sieben Notstromdiesel-Gebäuden untergebracht, die sich direkt neben den Reaktorgebäuden befinden. Jeder NDG befindet sich in einem voll isolierten Raum (keine Verbindungen untereinander) und ist mit autonomen Systemen zur Versorgung von Treibstoff, Öl, Strom und Kühlwasser versehen.

Jeder Notstromdiesel hat einen Zehn-Kubikmeter-Tank (ausreichend für 7 h) und einen Hundert-Kubikmeter-Reservetank (ausreichend für 2,5 Tage). Laut Angaben der IAEA und aus der Ukraine sind genügend Dieselvorräte für etwa 15 Tage vorhanden.

Allerdings sind die stationären Notstromdiesel nicht für einen unbegrenzten Dauerbetrieb ausgelegt. Vom Hersteller ist nach zehn Tagen Betrieb eine Wartung vorgesehen. Da pro Block drei NDG vorhanden sind, kann davon ausgegangen werden, dass unter Normalbedingungen eine parallele Wartung eines NDGs möglich wäre, während ein anderer läuft. Ob in ausreichendem Maße Ersatzteile vorhanden sind, ist nicht bekannt. Aus den Betriebserfahrungen ist bekannt, dass bei Überprüfungen der Verfügbarkeit der Notstromdieselgeneratoren diese nicht in jedem Fall funktionierten.

Wie oben bereits angeführt, wurden im Ergebnis der durchgeführten Stresstests aus der Erfahrung des Reaktorunfalls von Fukushima-Daiichi für alle Kraftwerksblöcke des KKW Saporischschja zusätzliche mobile Dieselgeneratoren und mobile Dieselpumpen bereitgestellt. Diese dienen bei auslegungsüberschreitenden Störfällen eines langfristigen Stromausfalls (einschließlich der stationären Dieselgeneratoren) bei gleichzeitigem Ausfall der Wasserversorgung zur Aufrechterhaltung der Kühlung der sicherheitsrelevanten Verbraucher (Nachwärmeabfuhr), der Versorgung der Leittechnik, wichtiger Armaturen, der Kommunikation, der Beleuchtung usw.

Rolle der KKW beim Wiederaufbau des Stromnetzes

Kernkraftwerke sind nicht schwarzstartfähig, das heißt, sie können nicht ohne externe Stromversorgung in den Leistungsbetrieb gebracht werden, da dazu notwendige Verbraucher wie beispielsweise die Hauptkühlmittelpumpen nicht über die Notstromdieselgeneratoren versorgt werden können. Sollen also die Kernkraftwerke, die sich im Notstromfall befinden, wieder in den Leistungsbetrieb gebracht werden, ist dazu entweder ein funktionierendes Stromnetz oder zumindest ein anderes Kraftwerk mit einer Versorgungsmöglichkeit für das betroffene Kernkraftwerk notwendig, um die zum Anfahren des Kernkraftwerks benötigten Verbraucher versorgen zu können.

Demnach können für einen eventuellen Wiederaufbau des Netzes nur die Anlagen genutzt werden, die sich gerade im Inselbetrieb befinden, bei denen der Lastabwurf auf Eigenbedarf also erfolgreich war.