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Havarie der Costa Concordia

Katastrophenereignisse: Einfluss der Organisation auf die Sicherheit von Kernkraftwerken

Um den sicheren Betrieb von technischen Einrichtungen wie beispielsweise Kernkraftwerken (KKW) zu gewährleisten, ist es wichtig, mögliche Risikofaktoren kontinuierlich zu ermitteln und zu analysieren. Neben der technischen Sicherheit ist der sogenannte Human Factor, also der menschliche Einfluss und Beitrag, für den sicheren Betrieb von Anlagen von entscheidender Bedeutung. Menschlich-organisatorische Aspekte sind daher ein nicht zu unterschätzender Aspekt der Sicherheitsforschung. Wissenschaftler der GRS haben nun in einer Studie organisatorische Faktoren identifiziert, die die Anlagensicherheit negativ beeinflussen können. Damit sind spezifische Eigenschaften gemeint, welche die Struktur der Organisation (Aufbauorganisation), die Organisation der Tätigkeiten und Prozesse (Ablauforganisation) sowie die Unternehmenskultur betreffen.

Um gesicherte empirische Erkenntnisse über den Einfluss solcher organisatorischer Faktoren zu gewinnen, hat das Forscherteam Katastrophenereignisse und Beinahe-Katastrophen in nichtnuklearen und nuklearen Anlagen im In- und Ausland untersucht. Es analysierte, welche organisatorischen Faktoren nachweisbar die Entstehung des Ereignisses verursachten, begünstigten oder die Beherrschung bzw. Mitigation, also das Abmildern der Folgen, erschwerten.

Vorstudie ermittelt Merkmale anhand dreier Beispiele

Die Deepwater Horizon während des Brandes
© US Coast Guard
Die Deepwater Horizon während des Brandes

In einer Vorstudie konnten die Wissenschaftler bereits am Beispiel dreier Katastrophenereignisse (Blowout der Bohrplattform Deepwater Horizon (2010), Kernschmelze in Fukushima (2011) sowie Havarie des Kreuzfahrtschiffes Costa

Concordia (2012)) relevante organisatorische Merkmale identifizieren, die Entstehung und Verlauf der jeweiligen Katastrophe nachweislich beeinflussten. Dazu zählen beispielsweise „Duldung von Nichtkonformitäten“, „Kommunikationsdefizite“ oder „Fehlende oder mangelhafte Durchführung von Notfallübungen“.

Sollten solche Merkmale auch beim Betrieb eines KKW vorliegen, lassen sich die meisten von ihnen auch unter normalen Umständen, also ohne den Eintritt eines katastrophalen Ereignisses, feststellen. Da die Merkmale also prinzipiell geeignet sind, um organisatorische Sicherheitsaspekte in kerntechnischen Anlagen zu analysieren und zu bewerten, diente dieser Forschungsansatz als Grundlage für die nun veröffentlichte Folgestudie.

47 Merkmale ermittelt, die Entstehung und Verlauf der Katastrophe beeinflussten

Trümmer des entgleisten ICE in Eschede
© Nils Fretwurst
Trümmer des entgleisten ICE in Eschede

In dieser Folgestudie führten die Forschenden eine detaillierte Analyse von insgesamt 15 nichtnuklearen und nuklearen Katastrophenereignissen und Beinahe-Katastrophen durch.

Neben einem Ereignis aus der Vorstudie (Havarie der Costa Concordia) waren das unter anderem ein Störfall durch Kabelbrand im Block 1 des KKW Greifswald (1975), die Chemiekatastrophe von Bhopal (1984), die Entgleisung eines ICE bei Eschede (1998) oder der Absturz eines Sightseeing-Hubschraubers in New York (2018). Dabei überprüften sie einerseits die bereits ermittelten organisatorischen Merkmale, andererseits identifizierten sie neue.

Bei der Betrachtung dieser Ereignisse fanden die Wissenschaftler insgesamt 47 verschiedene Merkmale, die Entstehung und Verlauf der Katastrophe beeinflussten. Zu diesen „elementaren“ Merkmalen gehören unter anderem „Akzeptieren von Sicherheitsdefiziten“, „Duldung von Nichtkonformitäten“, „Nichtbeachtung von Sicherheitsbedenken der Beschäftigten“, „inhaltliche und kanalbezogene Kommunikationsdefizite“ oder „Fehlen eines systematischen Managements von Sicherheitsreserven“.

Lassen sich die Merkmale auf deutsche KKW übertragen?

Hierarchie der elementaren und abstrakten Merkmale (zum Vergrößern klicken)

Die gefundenen Merkmale fassten sie teilweise in übergeordneten „abstrakten“ Merkmalen zusammen. So ordneten sie beispielsweise die Merkmale „Unzureichende Berücksichtigung von Human-Factors-Aspekten“, „Hohe Belastung der Mitarbeiter“ oder „Dienstausübung unter Drogeneinfluss“ dem abstrakten Merkmal „Human-Factor-Defizite“ zu. Die elementaren sowie abstrakten Merkmale stellten sie in Form eines Strukturbaumes dar. 

Anschließend untersuchten sie, inwiefern sich die jeweiligen gefundenen Merkmale auf den Betrieb von KKW übertragen lassen. Der Projektleiter Dr. Jan Stiller erklärt: „Wir haben uns gefragt: Können die Merkmale in deutschen kerntechnischen Einrichtungen grundsätzlich auftreten? Und können sie, wenn sie auftreten, die Sicherheit beeinflussen? Zu einigen Merkmalen gibt es bereits Anforderungen im deutschen Regelwerk. So müssen KKW-Betreiber in Deutschland ein Managementsystem einrichten und anwenden, das der nuklearen Sicherheit gebührenden Vorrang einräumt. Dadurch wird dem Auftreten des Merkmals ‚kein systematisches Management der Sicherheit‘ vorgebeugt. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses Merkmal in einer schwächeren Ausprägung als Defizit des Managementsystems auftritt, beispielsweise durch unzureichende Implementierung.“ 

Merkmale grundsätzlich für Beurteilung deutscher KKW geeignet

Die Fachleute kamen zu dem Schluss, dass die Merkmale für eine Beurteilung der Organisation kerntechnischer Anlagen grundsätzlich geeignet sind. Daher untersuchten sie als nächstes, wie die Merkmale beim Betrieb deutscher KKW erfasst und bewertet werden können. Zu vielen Merkmalen liegen bereits Informationen in aufbereiteter Form vor (beispielsweise als Kennzahlen, die im Rahmen des Managementsystems des Kraftwerks erhoben werden) oder können Ergebnisberichten von Reviews und Audits entnommen werden, die in KKW regelmäßig durchgeführt werden. Nicht zuletzt lassen sich auch aus meldepflichtigen Ereignissen der Anlagen, die kontinuierlich von der GRS verfolgt und ausgewertet werden, Informationen über die Merkmale gewinnen. 

Um ein möglichst kompaktes System von unabhängigen Merkmalen zu entwickeln, das als Grundlage der Bewertung des Betriebes deutscher kerntechnischer Einrichtungen geeignet ist, entwickelten die Forschenden zudem ein Bewertungssystem. Dadurch können solche Merkmale mit einer hohen Priorität bewertet werden, die sowohl wichtig als auch gut erfassbar sind. Weniger wichtige und schlechter erfassbare Merkmale erhalten eine entsprechend niedrigere Priorität. Hierzu bildeten sie eine Kennzahl, die sich aus zwei Faktoren zusammensetzt: dem Wert der Wichtigkeit des Merkmals und einer Zahl, die die Erfassbarkeit grob quantifiziert. Basierend auf dieser Kennzahl erstellten sie eine Prioritätsliste, mit welcher sich die Ausprägung der Merkmale ermitteln und bewerten lässt. 

Folgestudie zu Merkmalen, die Katastrophe verhindern können 

Die Wissenschaftler der GRS planen diesen Ansatz in einer Folgestudie weiterzuentwickeln. Dabei wollen sie organisatorische Merkmale umfassend identifizieren, die es begünstigen, dass eine Entwicklung hin zu einem katastrophalen Ereignis vermieden oder – möglichst in einer frühen Stufe – gestoppt wird oder das Ausmaß bzw. die Folgen einer Katastrophe begrenzt werden. 

Das Forschungsprojekt wurde mit Mitteln des Bundeswirtschaftsministeriums finanziert. Der Abschlussbericht ist in der Publikationsdatenbank der GRS abrufbar.

Projektinformationen

Titel: "AlErt – Analyse organisatorischer Einflüsse auf Auslösung und Beherrschung von Katastrophenereignissen"
Zeitraum: 05/2017–08/2020
Laufzeit: 40 Monate
Auftraggeber: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie