KI-Technologien für einen effizienteren Rückbau von Kernkraftwerken
Am 15. April 2023 wurden die letzten drei Kernkraftwerke (KKW) in Deutschland abgeschaltet. Sie werden nun – wie die zuvor abgeschalteten deutschen Leistungs-, Prototyp- und Forschungsreaktoren – stillgelegt. Derzeit sind nach Angaben des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung 36 Anlagen in unterschiedlichen Phasen der Stilllegung; drei KKW und drei Forschungsreaktoren sind zwar abgeschaltet, eine Stilllegungsgenehmigung wurde jedoch noch nicht erteilt beziehungsweise noch nicht in Anspruch genommen; drei weitere KKW und 31 Forschungsreaktoren sind bereits vollständig zurückgebaut und aus dem Geltungsbereich des Atomgesetzes entlassen – Erfahrungswerte mit der Stilllegung kerntechnischer Anlagen sind in Deutschland also mehr als reichlich vorhanden.
Rückbau wird noch einige Jahrzehnte in Anspruch nehmen
Da der Rückbau sämtlicher Leistungs-, Prototyp- und Forschungsreaktoren noch einige Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird, gilt es, Optimierungspotenzial auszumachen und neue Technologien, die Prozesse beschleunigen oder vereinfachen können, gewinnbringend zu nutzen. An dieser Stelle setzt ein vom Bundesbildungsministerium (BMBF) gefördertes Forschungsprojekt an, in dem Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fachabteilungen der GRS gemeinsam mit ihren Verbundpartnern actimondo eG (Koordinator), Dornier Nuclear Services, Advanced Nuclear Fuels, dem Forschungszentrum Jülich, FIR e. V. an der RWTH Aachen sowie dem Lehrstuhl für Bildungstechnologie der TU Dresden seit Anfang Mai ihre Expertise einbringen.
In den nächsten 36 Monaten wollen sie in drei Arbeitspaketen das Wissens- und Projektmanagement im Bereich Rückbau- und Genehmigungswesen verbessern und die Prozessführung mit praxisnahen Lösungen auf heutige Gegebenheiten anpassen. Hintergrund dieser Überlegungen ist in erster Linie der drohende Nachwuchs- und Fachkräftemangel, der sich bereits heute immer stärker abzeichnet. Als problematischer Faktor aus anderen Wirtschaftszweigen bekannt, betrifft er die kerntechnische Branche in Deutschland, nicht zuletzt wegen des Ausstiegs aus der Technologie, besonders. Und das, wenngleich die Stilllegungsprojekte, wie oben erwähnt, noch über Jahrzehnte andauern werden. Dementsprechend ist es sinnvoll, den heute vorhandenen Wissensschatz für die nächste Generation der Rückbau-Fachkräfte verfügbar und leicht zugänglich zu machen.
Hybride Lernplattform mit VR- und AR-Elementen
Im ersten Arbeitspaket geht es vor allem darum, Quer- und Neueinsteiger besser und effizienter zu qualifizieren – und das über die gesamte Branche hinweg, also für Unternehmen, Behörden und sonstige Organisationen. Dazu wird eine hybride Lernplattform entwickelt, die Präsenzveranstaltungen mit modernen Lernformaten wie E-Learning-Videos, Podcasts oder Animationsfilmen kombiniert. Hierbei sollen auch Trainingskonzepte mit Virtual- und Augmented-Reality (VR und AR) zum Einsatz kommen. Durch die zentrale Lernplattform sollen die diversen Bildungsmöglichkeiten, die im Bereich Rückbau kerntechnischer Anlagen existieren, gebündelt und besser verfügbar gemacht werden.
KI-Anwendung
In einem weiteren Arbeitspaket entwickeln die Fachleute eine KI-Anwendung, mithilfe derer sich der Wissensschatz, sprich die nationale und teilweise auch internationale Fachliteratur zum Thema Rückbau gezielt durchsuchen und leichter zugänglich machen lässt. Diese KI kann man sich vorstellen wie ein auf den Rückbau kerntechnischer Anlagen spezialisiertes Chat GPT. Die Grundlage dieser KI wird ein sogenanntes Large Language Model (LLM) sein, wie es auch bei den großen bekannten kommerziellen Chatbots der Fall ist – neben Chat GPT wären hier vor allem Microsofts Co-Pilot oder Googles Gemini zu nennen. LLMs sind, vereinfacht gesagt, computerlinguistische Wahrscheinlichkeitsmodelle, die mithilfe eines riesigen Fundus von Textdokumenten (mittlerweile können LLMs teilweise auch Bilder, Grafiken und ähnliches verarbeiten) trainiert werden, um auf statistischer Grundlage Antworten auf eine Frage geben zu können, die mit den Dokumenten, mit denen sie trainiert wurden, möglichst gut übereinstimmen.
Anders als bei den Vorgenannten dient bei der KI, die im Rahmen des Forschungsprojekts programmiert werden soll, zum einen nicht das gesamte Internet als Wissensschatz, sondern die oben erwähnte Fachliteratur; zum anderen dient dieser Wissensschatz nicht dazu, ein LLM zu trainieren, wie es bei den genannten Chatbots der Fall ist – die Fachliteratur wird stattdessen von der GRS dahingehend aufbereitet, dass sie vom LLM, welches der KI zugrunde liegt, verarbeitet werden kann. Dazu bedienen sich die Forschenden verschiedener Techniken, beispielsweise der sogenannten Retrieval Augmented Generation. Hierbei werden einem bereits existierenden LLM, das auf Grundlage eines beliebigen großen Datensatzes trainiert wurde, neue externe Daten zur Verfügung gestellt, die es berücksichtigen soll – in unserem Fall die Fachliteratur zum Rückbau.
Das LLM wird auf diese Weise befähigt, sich die Informationen zu etwaigen Anfragen aus diesen externen Daten herauszuziehen. Eine weitere Herausforderung besteht darin, die externen Daten so zu aktualisieren, dass das LLM auf die neuesten Daten zugreift, ohne das ganze System neu aufzusetzen – schließlich sollen die Antworten dem aktuellen Forschungsstand entsprechen. Um die Daten entsprechend aufzuarbeiten, wollen die Forschenden sogenannte Datenpipelines aufbauen. Solche Datenpipelines funktionieren wie eine Art Leitungssystem für Rohdaten, die aus verschiedenen Datenquellen in einen gemeinsamen Datenpool fließen, um dort analysiert und kuratiert zu werden. Durch dieses Vorgehen sollen die Ergebnisse aktuell, korrekt, eindeutig und nachvollziehbar werden.
Ziel des Arbeitspakets ist es, eine entsprechende KI-Anwendung in der GRS aufzubauen, um damit auch auf nicht-öffentliche Daten, also die erwähnte Fachliteratur, verlässlich zugreifen zu können. Ein solches KI-System würde eine erhebliche Arbeitserleichterung für Fachleute aus Industrie, Behörden und Forschung bedeuten. Die Technologie ließe sich anschließend auch auf andere Fachbereiche anpassen, beispielsweise die Reaktorsicherheit oder die Endlagerung.
Digitale Plattform für Genehmigungsprozesse
In einem dritten Arbeitspaket wird eine neue digitale Plattform für das Genehmigungsmanagement entwickelt. Ziel ist es, Genehmigungsprozesse für Stilllegungsarbeiten zukünftig transparenter und effizienter zu gestalten. Mit der zunehmenden Digitalisierung der einzelnen Prozesse ist auch die Gewährleistung der Sicherheit nicht unerheblich, beispielsweise um eine revisionssichere Übermittlung von Verfahrensunterlagen zu garantieren.
Als technische Grundlage für die neue Plattform soll die Blockchain-Technologie dienen, die in den letzten Jahren insbesondere durch ihren Einsatz bei verschiedenen Kryptowährungen einem größeren Publikum geläufig ist. Mithilfe des neuen Systems sollen beispielsweise Fachleute aus der Industrie genau verfolgen können, in welchem Bearbeitungsstatus sich ihre jeweiligen Rückbauanträge befinden. Auch diese Genehmigungs-Plattform soll im Optimalfall später auf andere Bereiche übertragen werden.
Das Forschungsprojekt läuft bis Juni 2027. Die Förderung für das Vorhaben stammt aus dem Förderkonzept „Forka – Forschung für den Rückbau kerntechnischer Anlagen“.