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Kernkraftwerk Doel

Laufzeitverlängerung belgischer Reaktoren (Stand: 08.02.2023)

Im Januar 2023 hat sich die belgische Regierung mit dem Betreiber der belgischen Kernkraftwerke darauf geeinigt, dass die Laufzeiten der Reaktorblöcke Doel 4 und Tihange 3 vorbehaltlich entsprechender Prüfungen und behördlicher Entscheidungen um zehn Jahre verlängert werden sollen. Anfang Februar hat die Regierung außerdem bekannt gegeben, dass sie zur Verbesserung des Versorgungsicherheit in den kommenden Wintern auch einen Weiterbetrieb der Anlagen Doel 1 und 2 sowie Tihange 1 in Erwägung zieht.

Am 18. März 2022 gab die belgische Regierung bekannt, dass sie den Weg für eine Verlängerung der Laufzeiten für die Kernkraftwerke (KKW) Doel 4 und Tihange 3 um weitere 10 Jahre eröffnet. Bei diesen Druckwasserreaktoren handelt es sich um die beiden jüngsten der belgischen Reaktorflotte; beide Anlagen haben 1985 ihren kommerziellen Betrieb aufgenommen. Der Entscheidung war eine Prüfung der Versorgungssicherheit nach einem – bislang so gesetzlich festgelegten – vollständigen Atomausstieg im Jahr 2025 durch den belgischen Netzbetreiber Elia vorangegangen. Der Prüfprozess war von der belgischen Regierung nach längerer Debatte bereits 2021 angestoßen worden und stand insofern zunächst nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine.

Nachdem die belgische Regierung und der Energieversorger Engie (der 100 % der Anteile an dem Betreiber der belg. KKW, Engie Electrabel hält) sich bereits im Juli 2022 im Grundsatz darauf geeinigt hatten, die fraglichen Anlagen im Fall einer Einigung durch ein von beiden Seiten hälftig getragenes Joint Venture weiterzubetreiben, wurde nun nach Angaben der belgischen Regierung vom 9. Januar 2023 eine Vereinbarung über eine Laufzeitverlängerung geschlossen („Heads of Terms and Commencement of LTO Studies Agreement“). Diese Vereinbarung sieht vor, dass die Reaktoren – vorbehaltlich einer entsprechenden Genehmigung – von November 2026 an bis 2036 weiterbetrieben werden sollen. Die nachfolgend beschriebenen Prüfungen dazu sollen unverzüglich eingeleitet werden. Außerdem haben sich Regierung und Engie auf den Rahmen einer Deckelung der zukünftigen Kosten für die Entsorgung radioaktiver Abfälle geeinigt. Diese Deckelung soll in den kommenden Wochen unter Einbeziehung einer „Risikoprämie“ („prime de risque“) sowie einer „Reihe von Garantien (…), die die ordnungsgemäße Erfüllung der Verpflichtungen des Atomkraftwerksbetreibers sicherstellen sollen“, konkretisiert werden.

Von der nun angestrebten Verlängerung unberührt bleiben die Termine für die endgültige Abschaltung der übrigen belgischen KKW: Von den Anlagen Doel 3 und Tihange 2, in deren Reaktordruckbehältern bei Prüfungen im Jahr 2012 Rissanzeigen entdeckt worden waren (weitere Informationen hierzu enthält die Stellungnahme der Reaktor-Sicherheitskommission), wurde die in Doel bereits im September 2022 stillgelegt, der Reaktorblock in Tihange soll zum 1. Februar 2023 endgültig vom Netz genommen werden. Zu diesen Terminen erreichen die Anlagen ihr sogenanntes „Auslegungs-Alter“ von 40 Jahren; anders als bei den anderen Reaktoren wurde mit Blick auf die Rissanzeigen auf einer Verlängerung der Laufzeit verzichtet. Die endgültige Abschaltung der Reaktoren Doel 1 und 2 sowie Tihange 1 ist für das Jahr 2025 festgelegt.

Übersicht Kernkraftwerke Belgien
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Übersicht Laufzeit KKW Belgien

Für den geplanten Weiterbetrieb von Doel 4 und Tihange 3 sind nun umfangreiche Prüfungen und entsprechende behördliche Entscheidungen erforderlich. Die belgische Aufsichts- und Genehmigungsbehörde FANC hat nach entsprechendem Auftrag durch die belgische Regierung ein Konzept vorgelegt, das die Gegenstände, den zeitlichen Ablauf und die Maßstäbe für diese Prüfungen erläutert (vgl. dazu die Pressemitteilung von FANC vom 20.01.22 und das FANC-Konzept vom 17.01.22, nur auf Französisch oder Flämisch).

Ablauf und Maßstab der Prüfungen

Nach Angaben von FANC ist eine zwingende Voraussetzung für einen Weiterbetrieb über das bislang gesetzlich festgelegte Abschaltdatum hinaus, dass der Betreiber vor diesem Zeitpunkt einen sogenannten „LTO-Aktionsplan“ (vom englischen „long-term operation“ – „Langzeitbetrieb“) vorlegt und dieser von der Behörde genehmigt wird. In einem solchen Plan ist darzulegen, mit welchen technischen und organisatorischen Maßnahmen der Betreiber

  • die Sicherheit der Anlagen im Hinblick auf ihre Alterung,
  • weitere Verbesserungen der Sicherheit und
  • eine langfristige Verfügbarkeit von qualifiziertem Personal

gewährleistet.

Mit Blick auf den vergleichsweise kurzen Zeitraum, der für die Erstellung des Aktionsplans und die technische Umsetzung entsprechender Maßnahmen verbleibt, schlägt FANC vor, dabei zwischen „erforderlichen Anforderungen“ und „möglichen Anpassungen“ zu unterscheiden. Erstere müssten zwingend bis zum Start eines Weiterbetriebs umgesetzt sein, weil sie für die Erfüllung der gesetzlich festgelegten Anforderungen notwendig seien. Für die Umsetzung der „möglichen Anpassungen“, die nicht zwingend erforderlich seien, jedoch die Sicherheit weiter erhöhen würden, könne nach der Auffassung von FANC ein „begrenzter Aufschub“ gewährt werden, ohne dass die Sicherheit beeinträchtigt würde.

Zur Begründung führt FANC zwei Aspekte an. Zum einen sind die oben genannten Maßnahmen an dem aktuell gültigen Regelwerk Belgiens zu bemessen. Der „Königliche Erlass vom 30. November 2011 über die Sicherheitsvorschriften für Kernanlagen“ wurde letztmalig im Jahr 2020 überarbeitet. Die dabei neu formulierten Anforderungen an die technische Auslegung der belgischen Reaktoren zielten dabei laut FANC vor allem darauf ab, das Sicherheitsniveau der älteren Anlagen (Doel 1 und 2 sowie Tihange 1) in Bezug auf „sehr schwere Naturereignisse, sehr seltene extreme Unfälle und deren Kombinationen“ so weit zu erhöhen, dass das entsprechende Niveau von Doel 4 und Tihange 3 erreicht wird. Dementsprechend geht FANC davon aus, dass bei den letztgenannten Anlagen ein „geringerer Aufwand“ erforderlich wäre, um die Anforderungen des Regelwerks einhalten zu können. Zum anderen führt FANC an, dass für diese Reaktoren derzeit keine sicherheitsrelevanten Probleme bekannt seien, die einen Weiterbetrieb über das Jahr 2025 von vornherein ausschließen, sofern die oben genannten „erforderlichen Anforderungen“ erfüllt würden.

Alterungsmanagement für die Laufzeitverlängerung

Ein wesentlicher Teil der für die Laufzeitverlängerung erforderlichen Prüfungen bezieht sich auf das sogenannte Alterungsmanagement. Im Jahr 2025 werden die beiden Reaktoren eine Laufzeit von 40 Jahren und damit ihr Auslegungs-Alter erreicht haben. Dieser Zeitraum bildet die Grundlage für die Annahmen über die voraussichtlichen betrieblichen Belastungen, für die Anlagen technisch ausgelegt wurden. Konkret wurden dabei beispielsweise eine bestimmte Anzahl an An- und Abfahrvorgängen oder Reaktorschnellabschaltungen unterstellt, denen die betreffende Anlage bis zum Erreichen des Auslegungs-Alters ausgesetzt ist. In dem „LTO-Aktionsplan“ ist nun ausgehend von einer Charakterisierung des Ist-Zustandes der eingesetzten technischen Einrichtungen darzulegen, mit welchen technischen Maßnahmen und betrieblichen Programmen gewährleistet wird, dass die beiden Reaktorblöcke bei den zu unterstellenden Belastungen auch für weitere zehn Jahre sicher betrieben werden können.

Ein Prüfaspekt ist dabei beispielsweise der Zustand des Reaktordruckbehälters (RDB). Die Neutronenstrahlung, die während des Betriebs vom darin befindlichen Reaktorkern ausgeht, führt dazu, dass das Material der RDB-Wand mit der Betriebszeit zunehmend versprödet. Damit einher geht eine zunehmende Empfindlichkeit dieses Materials für plötzliche, starke Temperatur­schwankungen. Solche Temperaturschwankungen können etwa auftreten, wenn während eines Störfalls mit Kühlmittelverlust (d. h. des Wassers, mit dem der Reaktorkern gekühlt wird) kurzzeitig große Mengen an vergleichsweise deutlich kälterem Notkühlwasser in den Reaktor eingespeist werden. Wäre in einem solchen Fall das RDB-Material zu stark versprödet, könnte es zu einem Versagen des RDB kommen. Dies würde zu einem Kernschaden und einer Freisetzung radioaktiver Stoffe führen. Als eine Voraussetzung für die Erteilung einer Genehmigung zur Laufzeitverlängerung ist deshalb nachzuweisen, dass die Integrität des RDB bis zum Ende der angestrebten Laufzeit sichergestellt ist.

Hierzu sind verschiedene Untersuchungen erforderlich. So wird beispielsweise hinsichtlich der Versprödung auf sogenannte Voreilproben zurückgegriffen. Dabei handelt es sich um Proben des RDB-Materials, die in Probenhalter innerhalb des RDB eingesetzt werden. Durch ihre größere räumliche Nähe zum Reaktorkern sind die Voreilproben einer noch stärkeren Neutronenstrahlung als die RDB-Wand ausgesetzt. Sie können nach ausreichend langer Bestrahlungszeit wieder aus dem RDB entnommen und hinsichtlich ihres Versprödungsgrads labortechnisch untersucht werden, sodass der zukünftige Zustand der RDB-Wand bestimmt werden kann.

Über den RDB hinaus sind auch alle anderen sicherheitsrelevanten technischen Einrichtungen zu prüfen. Dazu zählen beispielsweise weitere mechanische Komponenten, wie die Rohrleitungen der Kühlkreisläufe oder die Dampferzeuger, aber auch bauliche Einrichtungen und Komponenten der Elektro- und Leittechnik.

Für die durchzuführenden Prüfungen und die zu etablierenden Programme zum Langzeitbetrieb gibt es umfangreiche Richtlinien, die insbesondere im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit bei der IAEO entwickelt wurden. Darüber hinaus bietet die IAEO ihren Mitgliedsstaaten sogenannte SALTO-Missionen an (Safety Aspects of Long Term Operation), in deren Rahmen ein internationales Expertenteam entsprechende Maßnahmen und Prozesse auf der Grundlage der einschlägigen IAEO-Standards begutachtet. Belgien hat entsprechende Missionen in den 2010er-Jahren im Zusammenhang mit der Verlängerung der Laufzeiten von Doel 1 und 2 sowie Tihange 1 in Anspruch genommen.

Grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung

Neben dem nationalen atomrechtlichen Verfahren ist auch eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) durchzuführen. Ziel dieses europarechtlich vorgeschriebenen Prozesses ist es, die potenziellen Auswirkungen eines Vorhabens auf die Umwelt systematisch zu erfassen und zu bewerten. Eine wesentliche Rolle spielt dabei auch die Einbeziehung der Öffentlichkeit und fachlich betroffener Behörden – bei Vorhaben mit potenziell grenzübergreifenden Auswirkungen auch jenen der jeweils betroffenen Nachbarstaaten (ausführlichere Informationen sind u. a. auf der Webseite des Bundesumweltministeriums zu finden).

Die Verpflichtung zur Durchführung einer solchen UVP ergibt sich aus Sicht von FANC auch aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Laufzeitverlängerung für Doel 1 und 2. In der dazugehörigen Pressemitteilung führt das Gericht aus: „Was sodann die Gefahr erheblicher Auswirkungen auf die Umwelt betrifft, muss dieses Projekt nach Auffassung des Gerichtshofs so angesehen werden, dass es hinsichtlich der Gefahren für die Umwelt ein Ausmaß hat, das dem der Erstinbetriebnahme dieser Kraftwerke vergleichbar ist. Folglich muss ein solches Projekt zwingend einer Prüfung in Bezug auf seine Auswirkungen auf die Umwelt gemäß der UVP-Richtlinie unterzogen werden.“

Prüfung weiterer Laufzeitverlängerungen (Februar 2023)

Anfang Februar 2023 machte die belgische Regierung bekannt, dass sie den Betreiber Engie dazu auffordert, die Machbarkeit einer Verlängerung des Betriebs der Blöcke Doel 1 und 2 sowie Tihange 1 bis zum Jahr 2027 zu prüfen und die Ergebnisse bis Mitte März der Aufsichtsbehörde FANC vorzulegen. Eine finale Entscheidung soll Medienberichten zufolge bis Ende März dieses Jahres getroffen werden. Die Regierung begründet diesen Schritt damit, dass ein eventueller Weiterbetrieb insbesondere in den Wintern 2025/2026 und 2026/2027 die Versorgungssicherheit erhöhen könne; der Krieg in der Ukraine und die Probleme der französischen KKW-Flotte seien einem Sprecher des Energieministeriums zufolge hierfür ausschlaggebend gewesen.

Die betreffenden Anlagen haben ihren Betrieb 1975 aufgenommen und sollen nach derzeitigem Stand nach 50 Betriebsjahren im Jahr 2025 endgültig abgeschaltet werden. Der Betrieb über die 40 Jahre Auslegungsalter hinaus war 2015 genehmigt worden. Für alle drei Blöcke wurden in diesem Zusammenhang sogenannte „LTO-Aktionspläne“ aufgestellt, die vom Betreiber schrittweise abzuarbeiten waren. Die entsprechenden Arbeiten wurden im Jahr 2020 abgeschlossen; eine ausführliche Dokumentation findet sich auf der FANC-Webseite.

Genauere Informationen über die nun anstehenden Prüfungen bzw. die Voraussetzungen für einen eventuellen Weiterbetrieb der Anlagen über 2025 hinaus sind derzeit noch nicht verfügbar. Mit Blick auf den vergleichsweise kurzen Zeitraum bis zu einer Verlängerung sowie des angestrebten Weiterbetriebs selbst erscheint es unwahrscheinlich, dass größere technische Nachrüstungen derzeit für erforderlich gehalten werden. Dafür spricht auch, dass Medienberichten zufolge erwogen wird, die drei Anlagen während der Sommermonate nicht oder nur mit einer reduzierten Leistung zu betreiben.

[Hinweis: Dieser Beitrag ist eine aktualisierte Fassung eines Beitrags, der im März 2022 auf dieser Webseite veröffentlicht wurde.]