Kernenergie in der Ukraine
• Das Land deckt die Hälfte seines Strombedarfs mit Kernenergie.
• Es gibt Pläne für Neubauten sowohl von großen Kernkraftwerken (KKW) als auch von kleinen modularen Reaktoren (SMR).
• Im Zuge des russischen Angriffskrieges verstärkt die Ukraine derzeit ihre Unabhängigkeitsbemühungen vom Nachbarland.
• Die sechs Blöcke des KKW Saporischschja sind von Russland besetzt und seit 2022 abgeschaltet.
• Die vier Blöcke des KKW Tschernobyl an der belarussischen Grenze befinden sich im Rückbau.
Status quo der Stromerzeugung
Im Jahr 2021 hat die Ukraine fast 158 Terawattstunden (TWh) Strom erzeugt, der Nettoexport lag bei etwas mehr als 2 TWh. 15 Reaktoren mit einer Gesamtleistung von 13,1 Gigawatt (elektrisch) deckten dabei 55 Prozent des Energiebedarfs. Ein großer Teil der in der Ukraine eingesetzten Primärenergieträger stammt darüber hinaus aus den Uran- und Kohlevorkommen des Landes.
Nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Februar 2022 ist die Energiestrategie in erster Linie darauf ausgerichtet, die Abhängigkeit von russischen Importen (Brennstoff etc.) zu reduzieren und die weitere Dekarbonisierung des Energiemixes durch Stärkung der Kernenergie und der Erneuerbaren Energien voranzutreiben.
Aufgrund des Kriegsgeschehens ist der Strombedarf innerhalb der Ukraine gesunken und kann laut Netzbetreiber Ukrenergo durch die inländische Erzeugung gedeckt werden. Die sechs Blöcke des größten Kernkraftwerks auf europäischem Boden (Saporischschja) sind abgeschaltet. Welche Anlagen zur Stromerzeugung derzeit in welchem Umfang in Betrieb sind, wird aus kriegstaktischen Gründen nicht veröffentlicht – das gilt auch für die verbliebenen neun in Betrieb befindlichen KKW-Blöcke an den Standorten Riwne, Chmelnyzkyj und Südukraine.
[Wir nutzen die Zahlen der International Energy Agency (IAE), die für die Ukraine den Stand 2021 wiedergibt.]
Politische und rechtliche Rahmenbedingungen
Unter dem Begriff „Energiebrücke“ unterzeichneten die Netzbetreiber der Ukraine und Polens 2015 ein Abkommen über den Export von Strom zwischen der Ukraine und der Europäischen Union. Das Projekt wurde allerdings bislang nicht umgesetzt. Im darauffolgenden Jahr unterzeichnete der europäische Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E) Vereinbarungen mit Ukrenergo (Ukraine) und Moldelectrica (Moldau) über die künftige Zusammenschaltung der Stromnetze. Im Februar 2022 beantragte die Ukraine die Notfallsynchronisierung mit dem EU-Netz. Daraufhin wurden am 16. März die Netze der Ukraine und Moldaus versuchsweise mit dem kontinentaleuropäischen Netz synchronisiert. Im November wurde berichtet, dass der ukrainische Netzbetreiber Ukrenergo die Einhaltung der wichtigsten technischen Anforderungen erreicht habe, die für eine dauerhafte Verbindung zwischen dem europäischen Übertragungsnetz und dem ukrainischen Netz erforderlich sind.
Zur Stärkung der Unabhängigkeit der ukrainischen Energiewirtschaft plant das Land außerdem, eigenes Erdgas zu fördern.
Aktuelle Planungen und Projekte
Große KKW. Die Ukraine verfügt zwar über eigene Uranerzvorkommen, hatte vor Kriegsbeginn einen großen Teil ihrer nuklearen Dienstleistungen und ihres Kernbrennstoffs jedoch aus Russland bezogen. Bereits seit den 2000er-Jahren war die Ukraine bemüht, die Brennstofflieferungen zu diversifizieren. Deshalb wurden Brennelemente der Firma Westinghouse für den Einsatz im WWER-1000 qualifiziert und befinden sich dort seit Jahren im Einsatz.
Ursprünglich waren die ukrainischen Reaktoren, von denen 12 in den 1980er-Jahren errichtet wurden, auf eine Betriebsdauer von 30 Jahren ausgelegt. Mittlerweile wurden nach umfangreichen Modernisierungsmaßnahmen für einige davon Laufzeitverlängerungen darüber hinaus genehmigt.
Die beiden WWER-1000-Blöcke Chmelnizkij-3 und -4, deren Baustart bereits 1986/87 erfolgte, sollen ohne russische Beteiligung fertiggestellt werden. Außerdem sollen dort bis 2030 bzw. 2032 zwei weitere AP-1000 von Westinghouse errichtet werden, um den Verlust des von Russland besetzten KKW Saporischschja zu kompensieren.
Erster Beton wurde im April 2024 gegossen.
Im Mai 2024 kündigte Energoatom an, bald mit vorbereitenden Bauarbeiten für zwei AP-1000-Blöcke am Standort Südukraine zu beginnen. Vier weitere sollen laut ukrainischen Angaben im Gebiet Tscherkassy am Standort Tschyhyryn entstehen. Insgesamt sind neun AP-1000-Reaktoren in der Ukraine geplant.
SMR. Im Juni 2019 wurde das ukrainische Konsortium zwischen dem US-Unternehmen Holtec, Energoatom und dem Staatlichen Wissenschaftlichen und Technischen Zentrum für Nuklear- und Strahlensicherheit (SSTC NRS) gegründet. Das Konsortium gab bekannt, dass es den Bau von sechs SMR-160 am Standort des ukrainischen Kernkraftwerks Riwne ab 2030 erwägt. Im September 2021 unterzeichnete Energoatom eine Absichtserklärung mit NuScale, um den Einsatz von NuScale-Anlagen in der Ukraine zu prüfen. Im September 2023 wurde zudem eine Vereinbarung über die Entwicklung und den Einsatz des AP-300 zwischen Energoatom und Westinghouse geschlossen, Darüber hinaus führt die Ukraine auch Gespräche mit Holtec (ebenfalls USA), Leadcold (Schweden) und Rolls-Royce (UK).
Forschungsreaktoren
Die Ukraine betreibt seit 1960 einen nuklearen Forschungsreaktor in Kiew (WWR-M) mit einer thermischen Leistung von 10 Megawatt (MW). In Charkiw befindet sich eine unterkritische nukleare Neutronenquelle. Die beiden Anlagen werden für Forschungszwecke (kern- und materialtechnischen Untersuchungen) und zur Isotopenproduktion für Medizin, Forschung und Technik genutzt.
Im Zuge der Kriegshandlungen kam es bereits mehrere Male zu Schäden an der Neutronenquelle in Charkiw, die jedoch laut der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) bislang nicht zur Freisetzung radioaktiver Stoffe geführt haben. Die Neutronenquelle war bereits vor Kriegsbeginn abgeschaltet.
Uranabbau, Brennstoffherstellung und -bearbeitung
Die Ukraine verfügt über vier Uranerzminen, die von dem Staatsunternehmen VostGOK betrieben werden: in Michurinske, Tcentralne, Vatutinske und Novokostyantynivske. Eine Aufbereitungsanlage – ebenfalls von VostGOK betrieben – befindet sich in der Stadt Zhovti Vody. Laut "Red Book" der IAEA und der OECD NEA setzte die Ukraine in den vergangenen Jahren verstärkt auf die Entwicklung von Minen (Investitionen 2021 rd. 3,3 Mio. USD). Ziel der Regierung ist es, den gesamten inländischen Uranbedarf bis 2035 durch lokale Produktion zu decken. Im November 2023 wurde ein Vertrag unterzeichnet, der dem britischen Unternehmen Urenco den Status als Hauptlieferant für angereichertes Uran bis 2035 mit Option auf 2043 zusichert. Urenco arbeitet seit 2009 mit der Ukraine zusammen. Entsprechend einer neuen, ebenfalls bis 2035 gültigen Vereinbarung mit dem kanadischen Konzern Cameco exportiert die Ukraine eigenes Natururan nach Kanada, die erste Charge wurde im September 2023 verschickt. In Kanada erfolgt dann die Konvertierung zu Uranhexaflourid (UF6).
Weltweit macht die Uranproduktion der Ukraine einen Anteil von zwei Prozent aus. Auch in die inländische Brennelementeproduktion und die Urananreicherung soll investiert werden – die Ukraine strebt an, Teile der bislang von Westinghouse gelieferten Brennelemente selbst zu fertigen. Zudem setzt das Land auf die Erkundung potenzieller Thoriumressourcen.
(Stand: 20.09.2024)