COCOSYS

Software für die Analyse schwerer Störfälle in Sicherheitsbehältern von Leichtwasserreaktoren

Der Sicherheitsbehälter eines Kernkraftwerks ist die letzte von mehreren Barrieren, um radioaktive Stoffe zurückzuhalten. Er besteht aus einer gasdichten Stahlhülle, die den Reaktor einschließt und einer dicken Betonhülle, die die Stahlhülle vor Einwirkungen von außen schützen soll.  Bei einem Störfall nimmt der Sicherheitsbehälter aus dem Kühlkreislauf austretendes Kühlmittel auf, d.h. radioaktiv belastetes Wasser und Dampf. Die Rückhaltefunktion des Sicherheitsbehälters kann jedoch durch einen Unfall gefährdet werden. 

Die GRS kann mit ihrem Simulationsprogramm COCOSYS (COntainment COde SYStem) die thermohydraulischen und chemisch-physikalischen Vorgänge im Sicherheitsbehälter bei Stör- und Unfällen untersuchen. Zudem kann mit COCOSYS der radioaktive Quellterm bestimmt werden. Dieser gibt die Art und Menge der radioaktiven Stoffe an, die aus einem beschädigten Sicherheitsbehälter in die Umgebung freigesetzt werden können. Die Bestimmung des Quellterms einschließlich des zeitlichen Verlaufs der Freisetzung ist wichtig, um Maßnahmen des Katastrophenschutzes planen und bei einem tatsächlichen Unfall einleiten zu können. 

Charakteristik und Struktur des Programms

COCOSYS ist ein sogenannter ‚lumped parameter code‘, also ein numerisches Simulationsprogramm, bei dem der Sicherheitsbehälter in Zellen aufgeteilt wird. Für jeder dieser Zellen wird ein über der Zelle gemittelter definierter thermodynamischer Zustand (Temperatur, Druck und Gaszusammensetzung) berechnet (siehe Bild). Dynamische Vorgänge werden durch Austauschprozesse zwischen Zonen sowie zwischen Zonen und Strukturen (Wände, Böden, Decken) abgebildet. Dieser Ansatz erlaubt die Simulationen von Ereignissen über mehrere Stunden und Tagen. 

COCOSYS besteht aus drei Hauptmodulen:

  1. Thermohydraulik: Berechnungen zu Druck und Temperatur, Gas- und Dampfströme, Verdampfung- und Kondensationsvorgänge sowie Wasserstoff- und Kohlenmonoxid-Verbrennungen 
  2. Aerosol- und Spaltprodukte: Berechnungen zu chemisch-physikalische Prozessen, z.B. radioaktives Jod in der Atmosphäre des Sicherheitsbehälters, Ablagerungs-, Auswasch- und Filterungsprozesse von Aerosolen
  3. Schmelze-Beton-Wechselwirkung: Berechnung u.a. der Gasbildung durch thermochemische Reaktion der Schmelze mit Beton 

In den Modulen sind spezialisierte Modelle hinterlegt, in denen die Prozesse weitgehend mechanistisch nachgebildet werden. 

Eine Stärke von COCOSYS ist neben der Vielfältigkeit der berücksichtigten Prozesse, dass auch die komplexen Wechselwirkungen – soweit bekannt – nachgebildet werden. 
Mittlerweile sind die Einzelcodes COCOSYS und ATHLET bzw. ATHLET-CD (Thermohydraulik im Kühlkreislauf und Kernzerstörung) unter dem Dach des GRS-Programmpakets AC2 zusammengefasst und werden zunehmend gekoppelt eingesetzt. Damit können Wechsel- und Rückwirkungen zwischen Kühlkreislauf und Containment bei Stör- und Unfallabläufen noch detaillierter nachgebildet und das Verhalten der Anlage während des gesamten Störfall- oder Unfallablaufs simuliert werden. 

Validierung und Anwendung 

Seit Beginn der Code-Entwicklung wurde COCOSYS umfassend validiert. Dazu zählen insbesondere erfolgreiche Voraus- und Nachberechnungen von Versuchen an Testanlagen im In- und Ausland.  COCOSYS wurde ebenfalls anhand der realen Kernschmelzvorgängen in Fukushima validiert. Darüber hinaus nimmt die GRS regelmäßig an nationalen und internationalen Benchmark-Simulationen teil (so genannte Code- zu Codevergleiche). 

Die GRS hat zahlreiche Forschungsarbeiten mit COCOSYS für verschiedene Reaktorbaulinien durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Arbeiten haben geholfen, den Wissensstand zu Unfallabläufen auszubauen und konkrete Nachrüstmaßnahmen zu bewerten und zu verbessern. Ein Beispiel hierfür ist die Anordnung von katalytischen Rekombinatoren im Sicherheitsbehälter zur effizienten Rekombination von im Störfall freigesetztem Wasserstoff. Außerdem wurde COCOSYS in internationalen Forschungsprojekten zur Klärung und Aufarbeitung des Unfallablaufes in Fukushima genutzt.

Zahlreiche Organisationen im In- und Ausland setzen COCOSYS zur Reaktorsicherheitsforschung ein. 

Aber auch abseits der Kerntechnik lassen sich mit COCOSYS interessante Fragestellungen untersuchen. So analysiert die GRS mit COCOSYS die Ausbreitung des natürlich auftretenden radioaktiven Edelgases Radon in Gebäuden, um zielgenaue Maßnahmen und Handlungsempfehlungen zur Reduzierung der Radon-Aktivitätskonzentration abzuleiten. Während der Corona-Pandemie hat die GRS das Verhalten von Aerosolen mit SARS-CoV-2 Viren in einem exemplarischen Innenraumszenario untersucht. Dabei hat sie die hohe Bedeutung der luftgetragenen, virenhaltigen Aerosole aufgezeigt und die Wirksamkeit von Lüftungsmaßnahmen und FFP2-Masken quantitativ bestätigt.   

COCOSYS-Zellenaufteilung („Nodalisierung“) für den Sicherheitsbehälter eines deutschen Kernkraftwerks mit Druckwasserreaktor
© GRS
COCOSYS-Zellenaufteilung („Nodalisierung“) für den Sicherheitsbehälter eines deutschen Kernkraftwerks mit Druckwasserreaktor