© Stefan Kühn
Brennstoffkugel für einen Hochtemperaturreaktor

Der Kugelhaufenreaktor des Kernkraftwerks Shidaowan – ein inhärent sicherer Reaktor?

Das chinesische Kernkraftwerk (KKW) Shidaowan schaffte es kürzlich hierzulande in die Schlagzeilen: Laut einem in der Fachzeitschrift Joule veröffentlichten Paper soll durch Versuche belegt worden sein, dass ein Kernschmelzunfall in dem weltweit ersten kommerziell betriebenen Kugelhaufenreaktor ausgeschlossen und dieser deshalb „inhärent sicher“ sein soll. In diesem Beitrag wird beschrieben, wie dieser Reaktortyp funktioniert, was aus dem Versuch folgt und welche sicherheitstechnischen Herausforderungen sich dennoch stellen können.

Hochtemperaturreaktoren (HTR) zeichnen sich, wie der Name bereits vermuten lässt, durch ihre hohen Betriebstemperaturen aus, die einen höheren Wirkungsgrad und die Nutzung der Prozesswärme ermöglichen. Während die Temperatur des Kühlmittels in klassischen Leichtwasserreaktoren nicht über 330 Grad Celsius steigt, werden in HTR bis zu 750 Grad Celsius erreicht. Diese hohen Temperaturen werden insbesondere durch zwei Eigenschaften ermöglicht, die einen HTR von typischen Leichtwasserreaktoren unterscheiden: Beim HTR kommt Helium als Kühlmittel zum Einsatz, als Moderator wird Graphit verwendet.

Brennstoffkugeln statt Brennstäbe

Die weltweit einzige kommerziell betriebene Anlage steht auf dem Anlagengelände des KKW Shidaowan in der chinesischen Provinz Shandong, gegenüber der koreanischen Halbinsel. Der HTR-PM ist ein sogenannter Kugelhaufenreaktor, ein HTR-Typ, welcher statt Brennstäben Brennstoffkugeln verwendet, die sich in großer Zahl aufgehäuft in einem Reaktorbehälter befinden. Dadurch kann der Brennstoff während des laufenden Betriebs ausgetauscht werden.

Die ersten Kugelhaufenreaktoren wurden in Deutschland gebaut: Nachdem von 1966 bis 1988 das Versuchskernkraftwerk AVR Jülich mit 13 Megawatt elektrisch (MWe) Leistung betrieben wurde, sollte in den 1980er-Jahren der kommerzielle THTR-300 in Hamm folgen. Dieser wurde jedoch im September 1989 aus technischen, sicherheitstechnischen und wirtschaftlichen Überlegungen nach nur 423 Tagen Volllastbetrieb stillgelegt.

Kernschmelze physikalisch ausgeschlossen

Grundlage für den chinesischen HTR-PM ist allerdings das in Deutschland entwickelte, aber nie realisierte Konzept des HTR-Modul-Reaktors. Bei beiden soll eine Kernschmelze physikalisch ausgeschlossen sein: Selbst unter Unfallbedingungen soll die maximal erreichbare Brennstofftemperatur niemals die Auslegungswerte überschreiten, auch wenn keine Sicherheitssysteme wie Kernkühlsysteme, Abfahrsysteme etc. zum Einsatz kommen (mehr dazu weiter unten im Abschnitt „Negativer Reaktivitätskoeffizient, niedrige Leistungsdichte und hitzebeständige Brennstoffkugeln“).

China baut zahlreiche Kernkraftwerke wie kein anderes Land – seit 2010 nahmen hier 45 Reaktorblöcke den kommerziellen Betrieb auf, 27 weitere sind derzeit im Bau, Ende August 2024 genehmigte Peking elf weitere Neubauprojekte. Zudem ist der KKW-Park in China vergleichsweise vielfältig: Neben dem Hochtemperaturreaktor und den weltweit mit Abstand am häufigsten betriebenen Druckwasserreaktoren laufen hier auch schwerwassermoderierte CANDU-Reaktoren und ein natrium-gekühlter schneller Reaktor als Demonstrationsanlage. Zudem forscht China systematisch an weiteren Gen-IV-Reaktorkonzepten, wie zum Beispiel an bleigekühlten schnellen Reaktoren oder salzschmelze-gekühlten Reaktoren.

HTR-PM seit Dezember 2023 im kommerziellen Betrieb

Als Vorgänger und Versuchsreaktor des HTR-PM diente der HTR-10 mit einer Leistung von 10 MWth. Der HTR-PM nahm Ende 2023 nach rund elf Jahren Bauzeit den kommerziellen Betrieb auf; er verfügt über zwei Reaktormodule mit einer Leistung von jeweils 250 Megawatt thermisch (MWth).

Reaktor und Dampferzeuger befinden sich in zwei voneinander getrennten und höhenversetzten Druckbehältern

Reaktor und Dampferzeuger befinden sich beim HTR-PM in zwei voneinander getrennten und höhenversetzten Druckbehältern. Verbunden sind beide Behälter über einen konzentrischen Verbindungsbehälter, durch den das erhitzte Primärkühlmittel (750 °C) in den Dampferzeuger hinein und nachher abgekühlt (250 °C) auch wieder zurück in den Reaktordruckbehälter (RDB) strömt. Das Heliumgebläse ist an der Oberseite des Dampferzeugers montiert.

Im Inneren des RDB befinden sich die aufgehäuften Brennelementkugeln. Während des Betriebs durchlaufen die Brennelementkugeln den Kern mehrfach von oben nach unten, wobei Brennelementkugeln, die den maximalen gewünschten Abbrand erreicht haben oder beschädigt sind, aussortiert werden.

Ausfall der Nachwärmeabfuhr initiiert

In einer im Juli 2024 in der Fachzeitschrift Joule veröffentlichten Studie haben chinesische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Test beschrieben, der inhärente Sicherheitseigenschaften der HTR-PM-Anlage überprüfen soll. Bei den beiden durchgeführten gleichen Tests wurde bei jeweils einem der beiden Reaktoren am KKW Shidaowan bei einer Leistung von 200 MWth ein Ausfall der Nachwärmeabfuhr initiiert, indem die Stromversorgung vollständig abgestellt wurde.

Somit standen die Heliumgebläse und die Speisewasserpumpen nicht zur Verfügung. Zudem wurden in den Tests die Dampferzeuger isoliert, sodass eine sekundärseitige Wärmeabfuhr nicht zur Verfügung stand. Daraufhin wurde die Reaktorschnellabschaltung ausgelöst. Einzig der Heliumdruck wurde kontrolliert, um die Einrichtungen zu schützen. Ziel der Tests war es, die ausreichende rein passive Abfuhr der Nachzerfallswärme experimentell zu bestätigen.

Negativer Reaktivitätskoeffizient, niedrige Leistungsdichte und hitzebeständige Brennstoffkugeln

Durch den Ausfall des Heliumgebläses und die Isolation der Dampferzeuger steigt die Temperatur im Reaktorkern an. Aufgrund des Einfahrens der Abschaltstäbe, aber auch durch den beim HTR sehr negativen Reaktivitätskoeffizienten sinken die Reaktivität im Kern und die Wärmeproduktion deutlich ab. Weiterhin ist die Leistungsdichte des HTR-PM, wie bei anderen HTR-Konzepten auch, im Vergleich zu typischen Druckwasserreaktoren deutlich niedriger, wodurch eine passive Nachwärmeabfuhr ausreichend ist.

Aufbau der Brennelementkugeln

Die kugelförmigen Brennelemente haben einen Außendurchmesser von 60 Millimeter (mm) und bestehen aus einer inneren Brennstoffzone mit einem nominalen Durchmesser von 50 mm, in dem etwa 10.000 bis 20.000 Brennstoffpartikel (Coated Particles) enthalten sind, und einer äußeren, brennstofffreien Schale von 5 mm Dicke.

Die TRISO-Brennstoffpartikel haben einen Außendurchmesser von etwa 1 mm. Sie bestehen aus einem Brennstoffkern aus Urandioxid und mehreren den Kern umgebenden Hüllschichten: Zuerst umgibt den Kern eine Pufferschicht (Buffer) aus pyrolytischem Kohlenstoff mit hoher Porosität und geringer Dichte. Darauf folgt eine innere pyrolitische Kohlenstoffschicht (IPyC) mit hoher Dichte. Dieser Schicht folgt eine Siliziumkarbid-Schicht (SiC) und schließlich umgibt eine äußere Schicht pyrolitischen Kohlenstoffs (OPyC) hoher Dichte das gesamte Partikel. Diese Brennstoffkugeln sind sehr hitzebeständig, sodass eine Kernschmelze bei den dann vorherrschenden Temperaturrandbedingungen nicht auftritt.

Erstmaliger Nachweis von inhärenten Sicherheitseigenschaften eines Kernreaktors im kommerziellen Maßstab

Die chinesischen Fachleute kommen in ihrer Studie zu dem Schluss, dass sich der Reaktor bei einem Ausfall der Nachwärmeabfuhr ohne aktiven Eingriff selbst herunterkühlt. Die Ergebnisse wiesen demnach zum ersten Mal die inhärenten Sicherheitseigenschaften eines Kernreaktors im kommerziellen Maßstab nach. Auch im Fall eines Kühlmittelverluststörfalls könne anhand einfacher Rechnungen aufgezeigt werden, dass eine rein passive Wärmeabfuhr ausreichend sei.

In Anlehnung an die Überschrift soll an dieser Stelle betont werden, dass es sich bei dem HTR-PM nicht um einen inhärent sicheren Reaktor handelt, sondern um einen Reaktor mit inhärent sicheren Eigenschaften. Die Internationale Atomenergie-Organisation IAEA rät schon in einem Anfang der 1990er-Jahre veröffentlichten Dokument davon ab, ein Kernkraftwerk oder seinen Reaktor als inhärent sicher zu bezeichnen: „[...] Therefore the unqualified use of "inherently safe" should be avoided for an entire nuclear power plant or its reactor.“ Ist ein Reaktor so ausgelegt, dass ein bestimmtes Unfallszenario ausgeschlossen werden kann, so weist der Reaktor in dieser Hinsicht inhärent sichere Eigenschaften auf.

Andere Szenarien vorstellbar

Wie bei Leichtwasserreaktoren (LWR) sind für einen HTR die drei wesentlichen Schutzziele:

  1. Kontrolle der Reaktivität,
  2. Kontrolle der Wärmeabfuhr und
  3. Kontrolle des Einschlusses von radioaktiven Materialien

einzuhalten. Hierbei kommt der aus den Schutzzielen abgeleiteten spezifischen Sicherheitsfunktion „Kontrolle von chemischen Prozessen“ (hier Brände und Korrosion) beim HTR eine besondere Bedeutung zu. Relevant ist hier der Luft- und Wassereinbruch in den Kern, sodass es zur Oxidation der Graphitoberflächen kommen kann.

Störfälle mit Lufteinbruch können unter bestimmten Umständen, also abhängig von der Größe und Lage der Lecks, zu erheblichen Schäden im Kern führen. Es kann allerdings gezeigt werden, dass ein nennenswerter frühzeitiger Lufteintrag nur im Fall von zwei gleichzeitigen Leckagen auftritt (Kamineffekt), welcher relativ unwahrscheinlich ist (auslegungsüberschreitender Störfall).

Ein Wassereinbruch in den Reaktorkern hat verschiedene Auswirkungen:

  1. Erhöhung der Reaktivität,
  2. Oxidation der Graphitoberflächen und
  3. Öffnen der primärseitigen Sicherheitsventile.

Bei Konzepten mit Dampferzeugern (wie beim HTR-PM) ist der Druck auf der Sekundärseite höher als auf der Primärseite, sodass Wasser oder Dampf in den Reaktorkern eindringen könnte. Daher gibt es Vorkehrungen (niedrigere Lage und mögliche Absperrung des Dampferzeugers, sekundärseitige Druckentlastung), um die Auswirkungen eines Wassereinbruchs möglichst zu minimieren.

Im Gegensatz zu typischen Leichtwasserkonzepten besitzt der HTR kein druckfestes Containment. Hier wird das Konzept eines funktionalen Containments verwendet. In der Anfangsphase eines Störfalls mit Kühlmittelverlust oder Öffnen der primärseitigen Sicherheitsventile erfolgt die Rückhaltung der Spaltprodukte durch die TRISO-Partikel. Somit gelangen nur geringe Mengen an Spaltprodukten über Filter in die Umgebung. In einer späteren Phase des Störfalls ist der Druck im Containment niedrig, sodass eine Filterung der Spaltprodukte gut möglich ist.

Regulatorische Fragestellungen und Rückbau

Im Rahmen der Genehmigung von HTR gibt es international verschiedene Aktivitäten, vor allem in den USA, Japan und China, zur Entwicklung von Sicherheitsrichtlinien für diesen Reaktortyp. Hervorzuheben ist insbesondere die unterschiedliche Umsetzung des gestaffelten Sicherheitsebenenkonzepts beim HTR im Vergleich zum klassischen LWR. Ein Punkt ist die Verwendung eines funktionalen Containments, sodass eine Freisetzung von geringen Mengen an Spaltprodukten bei Störfällen (Sicherheitsebene 3) möglich ist und somit das Containment keine echte Barriere darstellt. Weiterhin sind Anforderungen mit Bezug auf Kernschmelze sowie der ultimativen Wärmesenke nicht unmittelbar auf HTR anwendbar. Zur Analyse der Anwendbarkeit von IAEA-Sicherheitsrichtlinien auf innovative Reaktorkonzepte, wie dem HTR laufen aktuell Aktivitäten bei der IAEA sowie im Rahmen des EU-Projekts HARMONISE, an dem auch die GRS beteiligt ist.  

Der Rückbau von HTR mit Graphit stellt aufgrund der spezifischen Eigenschaften dieses Materials eine Reihe von Herausforderungen dar. Dies sind zum Beispiel die Veränderung der Gitterstruktur aufgrund der Bestrahlung sowie der Umgang mit aktiviertem Graphitstaub, der bei der Zerlegung entstehen kann. Die Herausforderungen, die sich bei der Entsorgung radioaktiver Graphitabfälle stellen, sind zum jetzigen Zeitpunkt komplex. Derzeit gibt es keine allgemein akzeptierten Entscheidungen über die Behandlungs- und Konditionierungsmethoden, sodass bei graphitmoderierten Reaktoren (nicht unbedingt HTR) in der Vergangenheit das Konzept des sicheren Einschlusses gewählt wurde. Jedoch gibt es Bestrebungen, den Abbau graphitmoderierter Reaktoren in den kommenden Jahren durchzuführen. Aus dem Blickwinkel der heutigen Rückbauerfahrung in Deutschland würde man für die deutschen HTR den direkten Abbau bevorzugen.