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Wasser spritzt aus einem geleckten Rohr

Neues Strömungsmodell für Leckagen in Dampferzeuger-Heizrohren entwickelt

Dampferzeuger-Heizrohre in Druckwasserreaktoren sind starken Belastungen wie hohen Temperaturen oder großen Druckdifferenzen ausgesetzt. In Verbindung mit möglichen korrosiven Einwirkungen durch Ablagerungen im Außenbereich der Rohre können diese Beanspruchungen im ungünstigsten Fall zu Leckagen führen, die wiederum Einfluss auf die Betriebssicherheit haben könnten. Ein Forscherteam der GRS und der Materialprüfungsanstalt der Universität Stuttgart hat deshalb mit Unterstützung des Bundesumweltministeriums und des Bundeswirtschaftsministeriums vertiefende Untersuchungen zu solchen Leckagen durchgeführt. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben nun ein Strömungsmodell entwickelt, mit dem sich die Leckrate des ausströmenden Mediums noch genauer als bislang möglich bestimmen lässt.

Der weltweit mit Abstand häufigste Reaktortyp ist der Druckwasserreaktor (DWR). Wie andere Reaktortypen auch nutzt er die bei der Kernspaltung entstehende Energie, indem er Wasser verdampft; der Wasserdampf treibt dann eine Turbine an, die wiederum über einen Generator Strom ins Netz speist – ein Kernkraftwerk (KKW) funktioniert so gesehen nicht anders als ein konventionelles Kohlekraftwerk. 

Aufbau eines Druckwasserreaktors

Anders als beispielsweise ein Siedewasserreaktor, in dem der Wasserdampf direkt im Reaktor erzeugt wird, verfügt ein DWR über zwei Wasserkreisläufe: einen Primär- und einen Sekundärkreislauf. 

Im Primärkreislauf wird das Wasser durch den Reaktorkern geleitet, wo es auf bis zu 330 °C aufheizt. Da es zudem unter hohem Druck steht (bis zu 160 bar), verdampft es jedoch nicht. Über Pumpen wird es durch Rohre aus dem Reaktorkern durch die sogenannten Dampferzeuger gepumpt. In den Dampferzeugern befindet sich auch Wasser des Sekundärkreislaufs. Da es unter einem geringeren Druck als das Wassers des Primärkreislaufs steht, wird es durch die übertragene Wärme erhitzt und verdampft und anschließend zur Turbine geleitet.

Dampferzeuger-Heizrohre für effiziente Wärmeübertragung

Schema eines Dampferzeugers
© MPA Stuttgart
Schema eines Dampferzeugers

Eine wichtige Aufgabe kommt dabei den Rohren zu, die das Wasser aus dem Primärkreislauf durch den Dampferzeuger hindurchführen. Für eine möglichst effiziente Wärmeübertragung sind diese sogenannten Dampferzeuger-Heizrohre (DE-HR) sehr dünnwandig – um genau zu sein 1,2 mm dünn.

Außerdem gibt es eine Vielzahl dieser u-förmigen Rohre; durch einen typischen Dampferzeuger führen in der Regel tausende solcher DE-HR. 

Die Heizrohre sind während des Betriebs hohen Temperaturen, großen Druckdifferenzen sowie durch die Strömung hervorgerufenen Schwingungen ausgesetzt. Gerade im Außenbereich der Rohre (Sekundärbereich) können zudem Korrosionsschäden durch Ablagerungen im Bereich des Rohrbodens nicht ausgeschlossen werden.  In regelmäßigen Abständen werden diese Ablagerungen entfernt und die DE-HR auf Korrosionsangriffe überprüft. Werden dabei Wanddickenschwächungen oberhalb eines Schwellenwertes festgestellt, werden die betroffenen Heizrohre mit Stopfen verschlossen.

KKW-Betreiber muss nachweisen, dass Leckstörfälle beherrscht werden

Ein Beispiel für solche Schäden sind rissartige Wanddickenschwächungen, die in verschiedenen KKW festgestellt wurden, darunter auch in deutschen. Sollte ein Riss die Rohrwand durchdringen, kommt es zu einer Leckage. Solche wanddurchdringenden Risse werden nicht als Störfall eingestuft. Erreicht die Risslänge aber eine gewisse Länge, man spricht hier von der kritischen Risslänge oder dem kritischen Riss, kommt es zu einem sehr schnellen Risswachstum, das in kurzer Zeit zum doppelendigen Bruch des betroffenen DE-HRs führt.  

Kommt es zu einer Leckage, kann Kühlmittel verloren gehen sowie radioaktiv belastetes Wasser aus dem (eigentlich geschlossenen) Primär- in den Sekundärkreislauf austreten und Radioaktivität in die Umgebung gelangen. Sowohl gegen eine einfache Leckage als auch gegen einen doppelendigen Bruch, der als Störfall gilt, sind die deutschen KKW ausgelegt.

Dazu gehört, dass in den KKW Systeme zur Leckerkennung installiert sind, die unter anderem die Aktivität im Frischdampf messen (also im Sekundärkreislauf). Diese Messungen sind sehr genau, sodass auch sehr kleine Leckagen erkannt werden können – allerdings geben sie nur Auskunft darüber, dass ein Leck vorhanden ist; die Größe der Leckfläche lässt sich aus diesen Informationen allerdings bislang nicht ableiten. Die Leckgröße ist aber bei der Bewertung, ob ein Riss kritisch oder unterkritisch ist, der entscheidende Faktor.

Forschungsarbeiten zur Bestimmung der Leckrate

Doch wie kann man die Leckgröße bzw. die Risslänge zuverlässig bestimmen? Dabei kann die sogenannte Leckrate weiterhelfen. Die Leckrate beziffert das Volumen eines Stoffes, das in einer bestimmten Zeit aus einem Leck austritt. Die Idee dahinter: Wenn ich dank der Aktivitätsmessungen weiß, wie viel aus einem Leck ausgetreten ist und weitere Parameter wie die Druckdifferenz zwischen Primär- und Sekundärkreislauf kenne, kann ich daraus die Leckgröße mathematisch ableiten. 

Aufgrund der dünnen Wände lassen sich allerdings etablierte Ansätze zur Leckratenbestimmung, die überwiegend für dickwandige Strukturen gelten, nicht direkt auf DE-HR übertragen. Um die Leckrate sicher quantifizieren zu können, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der GRS und der Materialprüfungsanstalt (MPA) der Universität Stuttgart vom Bundesumweltministerium und Bundeswirtschaftsministerium geförderte, vertiefende Untersuchungen angestellt. Ziel war es, ein Strömungsmodell zu entwickeln, das die Leckrate in einem DE-HR zuverlässig beschreibt. 

Bei der Entwicklung ihres Strömungsmodells, des „metastabilen Freistrahlmodells“ (FSM), orientierte sich das Forscherteam der GRS zunächst an klassischen Leckagemodellen. Relevante thermodynamische Größen sind dabei vor allem Druck, Temperatur und Dampfgehalt. In einem Schema kann der Bereich, aus dem die Flüssigkeit aus dem Rohr herausströmt, in mehrere kleine Bereiche unterteilt werden. Diese Bereiche sind im folgenden Absatz beschrieben.

Ausströmbereich in fünf Bereiche unterteilt

Schematische Darstellung des Ausströmbereichs
Schematische Darstellung des Ausströmbereichs
  1. Primärmedium: Hier herrschen die konstanten Bedingungen des Primärkreislaufs (Druck und Temperatur sind relativ hoch).
  2. Einströmbereich: Im Einströmbereich fällt der Druck möglicherweise bereits ab. Das Wasser ist noch flüssig.
  3. Konvergenzbereich: Die Flüssigkeit wird durch den Druckabfall beschleunigt und durchströmt das Leck. Auf der Außenseite erreicht es den Außendruck, es verdampft allerdings noch nicht (metastabile flüssige Phase).
  4. Freistrahlbereich: Hier setzt nach einiger Zeit die verzögerte Entspannungsverdampfung ein, die Flüssigkeit verdampft also. 
  5. Sekundärmedium: Es herrschen die Bedingungen im Sekundärkreislauf (Druck und Temperatur sind niedriger als im Primärkreis).

Die wichtigsten Bereiche, die es mathematisch zu beschreiben gilt, sind dabei der Einström- und der Konvergenzbereich. Wie sich im Laufe des Projekts durch Messungen und Nachrechnungen zeigte, herrschen im Einströmbereich nach wie vor die gleichen Bedingungen vor wie im Primärkreislauf, Temperatur und Druck unterscheiden sich also nicht. 

Um diese Thesen zu untersuchen und das metastabile Freistrahlmodell (FSM) zu entwickeln und zu validieren, rechneten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Versuche aus der Forschungsliteratur und eigens dafür durchgeführte Versuche an der Universität Stuttgart nach (Links zu den hierfür relevanten Versuchen sind am Ende des Textes aufgeführt). Dabei zeigte sich unter anderem, dass mit den Ansätzen für Leckraten in dickwandigen Rohren teilweisegrößere Abweichungen zu den Versuchsergebnissen auftraten. Die Forschenden entwickelten mit FSM daher eine Beschreibung, mit der weitaus genauere Resultate erzielt werden können. Grundlage für ihr Modell sind allein die thermodynamischen Bedingungen (Druck, Temperatur, Dampfgehalt etc.). Das Modell passten sie für den Konvergenzbereich und die metastabile flüssige Phase entsprechend an. 

Modell mithilfe von Versuchen validiert

Um das FSM zu validieren, führten Fachleute der MPA Universität Stuttgart in Kooperation mit dem Forschungsteam der GRS erneut Versuche durch, in denen sie untersuchten, wie sich Ströme durch dünnwandige Leckagen verhalten, und die Leckraten maßen. Zudem fertigten sie Videoaufnahmen an, auf denen man das Strömungsbild im Ausströmbereich der Lecks erkennen kann. FSM zeigte im gesamten Temperaturbereich eine gute Übereinstimmung mit den Versuchsergebnissen. Die Forschenden empfehlen daher, das Modell bei der Untersuchung und Bewertung möglicher DE-HR-Leckagen mit einzubeziehen. 

Die Arbeiten zum Thema Leckratenberechnung in DE-HR wurden mit Unterstützung des Bundesumweltministeriums und des Bundeswirtschaftsministeriums durchgeführt und sind noch nicht abgeschlossen.

Projektinformationen

GRS-Projekt: Fachberatung des BMU bei wissenschaftlich-technischen Fragestellungen zu Ad-hoc-Problemen im Rahmen der Bundesaufsicht nach Art. 85 GG - AP3: Absicherung der Leckratenbestimmung bei Leckagen in Dampferzeuger-Heizrohren
Zeitraum: 09/2019–10/2020
Laufzeit: 14 Monate
Auftraggeber: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit

MPA-Projekt: Zentrale Untersuchungen und Auswertung zu aktuellen Fragestellungen im Hinblick auf druckführende Anlagenteile von Kernkraftwerken im Leistungsbetrieb - AP1: Absicherung der Leckratenbestimmung bei Leckagen in Dampferzeuger-Heizrohren
Auftraggeber: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit

GRS-Projekt: Weiterentwicklung der Analysemethoden zur Bewertung des Leck-vor-Bruch- 
Verhaltens metallischer Komponenten einschließlich Leckratenbestimmung 
Zeitraum: 02/2017–01/2020
Laufzeit: 36 Monate
Auftraggeber: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie

GRS-Projekt: Weiterentwicklung der Methoden zur Integritätsbewertung und Zuverlässigkeit von Rohrleitungen 
Zeitraum: 03/2020–02/2023
Laufzeit: 36 Monate
Auftraggeber: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie