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KKW Riwne

Nukleare Sicherheit in der Ukraine: Simulationen und Szenarien schwerer Unfälle von WWER-Reaktoren

Mehr als 30 Druckwasserreaktoren vom russischen beziehungsweise sowjetischen Typ WWER (Wasser-Wasser-Energie-Reaktor) werden derzeit in Ost- und Mitteleuropa betrieben, einige neue Anlagen befinden sich in Bau. So hat Mochovce-3 im Oktober 2023 den kommerziellen Betrieb in der Slowakei aufgenommen. Nicht zuletzt der Krieg in der Ukraine und die Tatsache, dass das Kernkraftwerk (KKW) Saporischschja Schauplatz des Kriegsgeschehens wurde, haben gezeigt, dass auch in Deutschland technisches Wissen über diesen Anlagentyp nach wie vor benötigt wird, um beispielsweise Risiken einschätzen zu können. Fachleute bei der GRS sind deshalb an zahlreichen, auch internationalen Forschungsprojekten zu WWER-Reaktoren beteiligt.

Wissen über ukrainische Anlagen für seriöse Lageeinschätzung unerlässlich

Mit Beginn der russischen Invasion der Ukraine wurden erstmals KKW zum Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen. Seit der Besatzung des ukrainischen KKW Saporischschja kam es zu zahlreichen Notstromfällen (etwa durch beschädigte Leitungen oder Schaltstationen), bei denen das KKW Saporischschja die Anbindung an das Landesnetz verlor und teilweise auf die anlageninternen Notstromdiesel angewiesen war. Fundiertes Wissen über die ukrainischen Anlagen ist in solch besonderen Situationen unerlässlich, möchte man die Lage vor Ort seriös einordnen.

Neben grundsätzlichen Kenntnissen zu Aufbau, Funktionsweise und Ausstattung der sowjetisch-russischen WWER-Reaktoren gehören dazu auch spezifischere Kenntnisse. Diese lassen sich unter anderem aus aktuellen Fragestellungen der Reaktorsicherheitsforschung ableiten. Hier ist die GRS gleich an mehreren Projekten beteiligt, die sich sowohl mit den WWER-1000- als auch mit den WWER-440-Reaktoren beschäftigen.

So erstellen Mitarbeitende der GRS beispielsweise Analysen zum Wasserstoffverhalten bei postulierten Unfallszenarien in Anlagen vom Typ WWER-440/213. Darüber hinaus sind Fachkolleginnen und -kollegen an der Modellierung des WWER-1000/320-Containments beteiligt. In beiden Fällen arbeiten wir eng mit unserer ukrainischen Partnerorganisation SSTC NRS zusammen, im letzteren Fall ist zudem die bulgarische Sachverständigenorganisation ENPRO Consult beteiligt. Beide Projekte wurden, neben weiteren Forschungsvorhaben mit WWER-Bezug, im Rahmen des Vorhabens INT KoNuS vom Bundesumweltministerium gefördert. 

WWER-440: Wasserstoffverhalten bei postulierten Unfällen

Spätestens seit dem Reaktorunfall in Fukushima Daiichi im März 2011 ist die Wasserstoffthematik einer der Schwerpunkte in der Reaktorsicherheitsforschung und spielt auch eine bedeutende Rolle im europäischen Stresstest für KKW. Große Mengen an Wasserstoff, die bei hohen Temperaturen im Reaktorinneren durch die Reaktion des Zirkoniums in den Hüllrohren der Brennelemente mit Wasserdampf entstehen, können zu entflammbaren Gasgemischen führen und sind ein wesentlicher Faktor, wenn es um Szenarien geht, die ein mögliches Versagen des sogenannten Störfalllokalisierungssystems (SLS) betreffen. Das SLS stellt in KKW mit WWER-440/213 bei Stör- und Unfällen mit Kühlmittelverlust die letzte Barriere vor dem Austritt von Radioaktivität in die Umgebung dar.  

Um die Bildung entflammbarer Wasserstoffgemische zu verhindern, wurden alle europäischen KKW nach dem europäischen Stresstest schrittweise mit sogenannten Wasserstoff-Rekombinatoren ausgestattet, insofern sie nicht ohnehin schon über solche verfügten. Mithilfe dieser katalytischen Rekombinatoren wird Wasserstoff mit Atmosphärensauerstoff zu Wasserdampf oxidiert. Typischerweise besteht der dazu notwendige Katalysator aus Palladium oder Platin, das auf ein Trägermaterial, beispielsweise kleine Kügelchen aus Aluminiumoxid oder Platten aus Edelstahl, aufgedampft wird.

Rekombinatoren helfen nur da, wo sich auch Wasserstoff ansammelt

Allerdings helfen diese Rekombinatoren nur da, wo sich auch Wasserstoff im Reaktorgebäude ansammelt. Um herauszufinden, wo genau sich diese Räume befinden, hatten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der GRS gemeinsam mit ihren ukrainischen Partnern zunächst einen Datensatz für den eigens entwickelten Simulationscode COCOSYS für die Blöcke 1 und 2 des KKW Riwne erstellt.

Bild 1: Gebäudequerschnitt eines KKW mit WWER-440/213

Bild 1 zeigt den Gebäudequerschnitt eines WWER-440/213, in dem die Räume des SLS gelb hinterlegt sind. Der gegenwärtig vorliegende COCOSYS-Datensatz modelliert sowohl das SLS als auch den aktuellen Stand der Anlage. 

Die hierfür notwendigen Informationen steuerten die ukrainischen Kolleginnen und Kollegen bei. Dieser Datensatz konnte dann in Unfallanalysen angewendet werden; dabei berücksichtigten die Fachleute der GRS verschiedene Konzepte, wie passive Wasserstoff-Rekombinatoren im SLS angeordnet werden können.

Ausbildung entflammbarer Gasgemische kann durch Nachrüstung von Rekombinatoren verhindert werden

Bild 2 zeigt die Zuordnung von Anlagenräumen zu COCOSYS-Modellzonen und ihre Verbindungen untereinander. Des Weiteren ist die Aufteilung der verschiedenen Rekombinator-Typen auf die Anlagenräume für ein Konzept mit 63 Rekombinatoren dargestellt. Unter anderem wurden so COCOSYS-Analysen zum Unfallszenario „Leck in einer Hauptkühlmittelleitung bei gleichzeitigem totalem Stromausfall“ durchgeführt. Mithilfe dieser Analysen bewerteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter anderem:

  • die berechnete Wasserstoffkonzentration im SLS,
  • ob und wie sich die entflammbaren Gasgemische ausbilden sowie
  • die Effektivität installierter Rekombinatoren.
Bild 2: COCOSYS-Modellschema für ein Konzept mit 63 Rekombinatoren FR1-x und Markierung des Bereiches mit berechneter Wasserstoffverbrennung (rot: Gasverbindungen; blau: Wasserverbindungen)

Die Ergebnisse der Unfallanalysen zeigen, dass durch die Nachrüstung von Rekombinatoren die Gefahr der Ausbildung entflammbarer Gasgemische effektiv eingedämmt werden kann. Aus Bild 2 wird ersichtlich, dass beim Konzept mit 63 Rekombinatoren die berechnete Gasgemischzusammensetzung lediglich im Bruchraum SGBOX1A die Entflammbarkeitskriterien (siehe Flammensymbol in der Abbildung) erfüllt und die Verbrennung eintritt, wobei sie sich im Gegensatz zum Originalkonzept mit nur 8 (grün gekennzeichneten) Rekombinatoren nicht auf benachbarte Räume ausbreitet.

Jedoch ist die Installation von insgesamt 15 Rekombinatoren in sogenannten Sackräumen (in Bild 2 grau schattiert) wirkungslos, was durch die Analyse weiterer Szenarien zu untermauern ist.

WWER-1000: Unfallszenario mit schwerem Kernschaden und Schmelzeausbreitung

In einem anderen Projekt wurde ein Unfallszenario mit schwerem Kernschaden und Schmelzeausbreitung für einen WWER-1000/320 betrachtet. Ein Schwerpunkt der Untersuchung lag darin, wie stark der Unfallablauf vom Detaillierungsgrad der räumlichen Modellierung der Reaktorgrube, in der sich der Reaktordruckbehälter (RDB) befindet, und der Nachbarräume beeinflusst wird. Auch für diese Analysen wurde der GRS-Simulationscode COCOSYS genutzt.

Bild 3: Schematische Darstellung der COCOSYS-Modellierung für das WWER-1000-Containment

Dazu entwickelten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunächst ein Modell für das WWER-1000-Containment, mithilfe dessen sie die physikalischen und chemischen Phänomene während einer Unfallanalyse geeignet und hinreichend genau abbilden können. Bild 3 zeigt das aus 97 Zonen bestehende COCOSYS-Modell.

Szenario: Kühlmittelverluststörfall

Für die Analyse unterstellten die Fachleute das Szenario eines Kühlmittelverluststörfalls mit totalem Stromausfall (sogenannter „station blackout“). Infolge der fehlenden Kernkühlung und der weiteren Ausfall-/Versagensannahmen kommt es nach kurzer Zeit zum Abschmelzen des Reaktorkerns und nach 3,25 Stunden zum Versagen des RDB.

Zu diesem Zeitpunkt tritt das Corium – also das geschmolzene Material (Schmelze), das bei einer Kernschmelze entsteht – in die Reaktorgrube ein. Dadurch entsteht ein Schmelzepool 1 in der Reaktorgrube (Bild 4).

Nach dem radialen Durchbruch des Betons in der Reaktorgrube verlagert sich die Kernschmelze unterhalb der Stahltür in den Nebenraum, in dem sich der Schmelzepool 2 (Zone 2) bildet. Die Schmelze breitet sich dann auf dem Boden weiter aus und tritt in den sogenannten Ringraum des Containments ein, in dem der Schmelzepool 3 (Zone 3) entsteht. Unmittelbar nach dem Austritt kommt die Schmelze mit dem in Zone 3 befindlichen Wasser in Kontakt, was zu einer hohen Dampfproduktion im Containment führt.

Ausbreitung der Schmelze

Bild 4: Schematische Darstellung der Schmelzeausbreitung in einem generischen WWER-1000-Containment zum Zeitpunkt mit drei Schmelzepools

In der Simulation, die aus mehreren Variantenrechnungen besteht, breitet sich die Schmelze auf einer Fläche von über 230 Quadratmetern aus und erreicht in Zone 2 eine Höhe von bis zu 10 Zentimetern.

Die aus der Stufen- und Schmelzepoolhöhe berechnete Höhendifferenz zwischen Zone 2 und 3 beeinflusst signifikant die Wasser-Schmelze-Interaktion im Ringraum, den Wechsel zwischen nassen und trockenen Zuständen auf der Schmelzoberfläche sowie die Druckverhältnisse im Containment.

In der Analyse wurde festgestellt, dass die Aktivierung der gefilterten Druckentlastung in einem Szenario mit konstanter Bodenhöhe bereits nach etwa 10,6 Stunden erfolgt. Bei einer präziseren Modellierung der Bodengeometrie, die eine 20 cm hohe Stufe einbezieht, verzögert sich die Aktivierung um 3,3 Stunden auf ca. 13,9 Stunden. Der Grund für diesen Unterschied liegt im Kontakt zwischen der Schmelze und dem Wasser, der durch die Höhendifferenz zwischen den Zonen 2 und 3 beeinflusst wird. Diese zeitliche Verschiebung ist relevant für den berechneten Quellterm, da sie die Menge und Art der freigesetzten radioaktiven Nuklide bestimmt. Die zusätzliche Zeit bis zur Druckentlastung ermöglicht es radioaktiven Aerosolen, sich abzusetzen und zu zerfallen, was wiederum Einfluss auf die mögliche radioaktive Belastung der Umwelt hat.

Internationale Zusammenarbeit soll fortgeführt werden

Die Ergebnisse der hier umrissenen Untersuchungen zeigen, dass sich die Erfassung und Berücksichtigung von Anlagendetails in der Modellierung signifikant auf die Unfallabläufe sowohl im SLS von KKW mit WWER-440 als auch im Containment von WWER-1000-Anlagen auswirken. Die bisherige erfolgreiche internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Unfallanalysen soll daher künftig fortgeführt werden, um weitere Unsicherheiten in den Rechenprogrammen und in der Anlagenmodellerstellung für die Durchführung von Unfallanalysen zu minimieren, das Anlagenverständnis weiter zu vervollkommnen und die Kenntnis über den Zustand der KKW mit WWER auf dem aktuellen Stand zu halten.