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Aufnahme aus dem Inneren des New Safe Confinement

Tschernobyl: Ein Jahrestag im Zeichen des Krieges

36 Jahre nach dem Reaktorunfall am Kernkraftwerk Tschernobyl

Der 36. Jahrestag des Reaktorunfalls von Tschernobyl am 26. April steht im Zeichen des Krieges in der Ukraine. Seit dem Einmarsch russischer Truppen auf ukrainisches Staatsgebiet am 24. Februar 2022 sind auch kerntechnische Anlagen von den Kampfhandlungen direkt oder indirekt betroffen – so auch das unmittelbare Gelände und die 30-km-Sperrzone um das ehemalige Kernkraftwerk (KKW) Tschernobyl. Wir blicken in diesem Beitrag zum einen auf die Situation vor Ort seit Kriegsbeginn. Zum anderen bieten wir einen Blick auf die Arbeiten, die vor Beginn der Invasion auf dem Gelände des KKW durchgeführt wurden. 

Situation auf dem Anlagengelände und in der Sperrzone seit Kriegsbeginn

Mit dem Eindringen russischer Truppen in die Sperrzone Ende Februar, stieg die Ortsdosisleistung bis zum 28. Februar 2022 an verschiedenen Messpunkten innerhalb der 30-Kilometer Sperrzone und auf dem Anlagengelände des KKW teilweise um das bis zu 30-fache der sonst üblichen Werte an. Eine Gefahr für Deutschland bestand dadurch nicht. Die ukrainische Aufsichtsbehörde führte den Anstieg darauf zurück, dass russische Militärfahrzeuge Staub aufgewirbelt hatten, der infolge des Unfalls von 1986 radioaktive Stoffe enthält. Einige Tage nach Beginn der Invasion waren die Daten des Messnetzes MEDO aus der Sperrzone nicht mehr online abrufbar, was die unmittelbare Bewertung der radiologischen Situation vor Ort erschwerte. Vor dem Abbruch der Verbindung waren die Werte jedoch wieder etwas zurückgegangen.

Aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen fiel am 9. März die letzte Anbindung des Standortes an das externe Stromnetz aus. Die Anlagen, die auf dem Kraftwerksgelände auf externe Stromversorgung angewiesen sind, wie zum Beispiel das Nasslager für abgebrannte Brennelemente (das sogenannte ISF-1), mussten längere Zeit über Notstromdiesel versorgt werden, bis die Stromverbindung am 14. März wieder dauerhaft hergestellt werden konnte. 

Ein wesentlicher Grund zur Besorgnis war über die vergangenen Wochen hinweg auch immer wieder die äußerst belastende Situation für das Betriebspersonal am Kraftwerksstandort. Dessen Auswechslung war nach fast vier Wochen im Dauereinsatz erstmals am 21. März möglich. Sowohl die ukrainische Aufsichtsbehörde als auch die IAEA hatten mehrfach auf den großen psychischen Druck hingewiesen, unter dem die Beschäftigten stünden. Neben der Anwesenheit russischer Truppen auf der Anlage selbst, war der Kontakt zu Familien und Freunden kaum möglich. Am 24. März wurde zudem öffentlich, dass Checkpoints der Stadt Slawutytsch unter Beschuss stehen. In der Stadt leben die meisten der Mitarbeitenden des KKW. Bis 20. April 2022 fanden lediglich zwei Personalwechsel statt (am 21.3. und am 10.4.2022). Ab dem 21. April 2022 konnte der reguläre Austausch der Betriebsmannschaft für das KKW Tschernobyl wieder aufgenommen werden.  

Am 23. März informierte unter anderem die IAEA über Wald- und Flächenbrände, die innerhalb der Sperrzone ausgebrochen waren. Brände dieser Art wurden dort um diese Jahreszeit häufig beobachtet. Eine Gefährdung von Personen vor Ort und darüber hinaus – beispielsweise durch radioaktive Partikel, die beim Verbrennen von Pflanzen und Boden freigesetzt werden können – war unter anderem auf Basis der Erfahrungen aus den vergangenen Jahren jedoch nicht zu erwarten.    

Nach dem Abzug russischer Truppen vom Gelände des KKW und aus der Sperrzone am 31. März, plant die IAEA beginnend am 26. April eine Expertenmission zum Standort. In diesem Rahmen sollen unter anderem radiologische Bewertungen durchgeführt, der Bedarf an zu liefernder Ausrüstung ermittelt und die Systeme zur radiologischen Überwachung repariert werden. Am 19. April informierte die IAEA schließlich auch über die Wiederherstellung der direkten Telefonverbindung zwischen Behörde und Anlage. Dieser Kontakt war seit 10. März unterbrochen.

Weitere Informationen zur aktuellen Entwicklung am Standort Tschernobyl und an den anderen kerntechnischen Einrichtungen der Ukraine finden sich auf unserer Tschernobyl-Infoseite und in unserem Newsblog.

Arbeiten auf dem Anlagengelände in der Zeit vor Kriegsausbruch

Bis zum Einmarsch russischer Truppen fanden die Arbeiten auf dem Gelände des Kraftwerksstandorts Tschernobyl in gewohnter Weise statt. In zahlreichen der – auch international geförderten – Projekte sind Fachleute der GRS involviert. Seit 1986 beschäftigt sich die GRS mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl und dessen Folgen. Dies umfasst sowohl die wissenschaftliche Aufarbeitung des Unfalls als auch die Unterstützung der Behörden vor Ort. 

So führt die GRS gemeinsam mit der ukrainischen Sachverständigenorganisation SSTC NRS wissenschaftliche Arbeiten zur Bewertung von Gefahren im System des Sarkophags mit dem Neuen Sicheren Einschluss (New Safe Confinement, NSC) durch. Gegenwärtig konzentrieren sich die Tätigkeiten der GRS und der SSTC NRS auf den Einfluss der darin enthaltenen brennstoffhaltigen Materialien auf die radiologische Situation, insbesondere im Hinblick auf die luftgetragene Aktivität. 
Ein weiteres Beispiel für diese Zusammenarbeit ist die Pflege und Aktualisierung einer Datenbank unter anderem zur Erfassung der radiologischen Situation am Standort.

Erfassung radiologischer Daten  

Seit 2006 entwickelt die GRS zusammen mit ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die „Shelter Safety Status Database“ (SSSDB). In der Datenbank werden Daten zur radiologischen Situation vor Ort gesammelt, die in Zusammenarbeit mit ukrainischen Experten erhoben werden. In der Datenbank sind beispielsweise mehr als 1.000 Waldbrände aus dem Zeitraum von 1993 bis 2021 erfasst. Außerdem wird darin auch die Lage und Aktivität der sogenannten „waste dumps“ erfasst (siehe Abbildung 1). Zahlreiche dieser Abfalllagerstellen wurden unmittelbar nach dem Reaktorunfall provisorisch auf dem Gebiet um das KKW eingerichtet. Seit 2021 werden zudem Daten zur Wildtierkontamination erfasst.
 

Abbildung 1: Ausschnitt aus dem Geoinformationssystem (GIS), das an die SSSDB angebunden ist. Darauf sind die Standorte der sogenannten „waste dumps“ flächig markiert und mit dem Kürzel PTLRW (point for temporary localization of radioactive waste) gekennzeichnet. Zur Orientierung: Das rote Rechteck verdeutlicht die Lage der Reaktorblöcke 1-4 (Quelle: GRS) - Für eine vergrößerte Darstellung bitte anklicken.
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Ausschnitt aus dem Geoinformationssystem

In der SSSDB werden außerdem die Daten des Monitoringsystems NSMS (Nuclear Safety Monitoring System) zur Überwachung der nuklearen Sicherheit im Inneren des Sarkophags erfasst.   

Zu den Daten, die im Sarkophag ermittelt werden, zählen unter anderem Werte zur Neutronenflussdichte und zur Ortsdosisleistung, die vom NSMS an 19 Überwachungspunkten gemessenen werden. Durch die langjährige Beobachtung wird auch der Blick auf die Entwicklung dieser Werte möglich. So wurde seit 2016 beispielsweise ein Anstieg der Neutronenflussdichte in der Nähe des Raumes 305/2 gemessen, in dem sich sogenanntes Corium (Reste des beim Unfall geschmolzenen Reaktorkerns) befindet. Die gemessene Strahlung in dem Raum 305/2 hat sich in vier Jahren (2016-2020) um das zwei- bis dreifache erhöht, liegt aber deutlich unter den zulässigen Grenzwerten. 

Diskutiert wurde auch immer wieder die Möglichkeit einer Rekritikalität und die dafür erforderlichen Voraussetzungen. Der Anstieg der Neutronenflussdichte ist hierbei ein sicherheitstechnisch kritischer Parameter, der beobachtet werden muss. Bislang konnte der Grund für den Anstieg in diesem konkreten Raum noch nicht eindeutig ermittelt werden, unter anderem auch deshalb, weil der Raum infolge der dort herrschenden Strahlung nicht betretbar ist. Als eine mögliche Erklärung wird beispielsweise diskutiert, dass nach der Installation des NSC über dem Sarkophag kein Regenwasser von außen mehr in den Raum gelangte, in dem sich kernbrennstoffhaltiges Material befindet. Das zu diesem Zeitpunkt noch vorhandene Wasser könnte zum Teil verdunstet und in der Folge genau die Menge erreicht haben, um als Moderator für eine sich in Gang setzende Kettenreaktion zu dienen. Als eine weitere mögliche Erklärung wird auch die abnehmende Abschirmfunktion des im Raum vorhandenen Wassers bei der Trocknung diskutiert. Infolgedessen würde die Wahrscheinlichkeit, dass nachweisbare Neutronen den Raum verlassen, zunehmen und einen scheinbaren Anstieg der emittierten Neutronen im gemessenen Signal verursachen. 

Aktuellere Messdaten für den Raum 305/2 im Inneren des Sarkophags liegen der GRS derzeit nicht vor. Nach Aussage ukrainischer Wissenschaftler sind die Messwerte jedoch nicht weiter angestiegen. Trotz der signifikant erhöhten Neutronenstrahlung werde die gegenwärtige Situation als stabil und ungefährlich eingeschätzt.

New Safe Confinement (NSC)

Noch im Jahr des Unfalls wurde eine Stahl-Beton-Konstruktion - der Sarkophag - über dem zerstörten Reaktor errichtet. Beim Bau des Sarkophags wurden teilweise Reste des zerstörten Reaktorgebäudes genutzt, soweit diese nach dem Unfall noch nutzbar waren. Der Sarkophag wurde somit von Anfang an als Provisorium für eine begrenzte Standzeit konzipiert. Eine dauerhafte Lösung sollte zu einem späteren Zeitpunkt realisiert werden. Ein Einsturz des Sarkophags – insbesondere bei extremen Wetterbedingungen oder bei einem Erdbeben – konnte nicht ausgeschlossen werden. Da sich die Arbeiten für einen neuen sicheren Einschluss verschoben hatten, wurden zunächst einmal bis zum Jahr 2008 wichtige Teile des Sarkophags stabilisiert. Dabei ging man davon aus, dass die weiterhin vorhandenen instabilen Teile des Sarkophags bis 2023 zurückgebaut werden müssen. Bevor der neue sichere Einschluss (NSC) über den Sarkophag geschoben wurde, bestand deshalb die Gefahr, dass bei einem Einsturz des Sarkophags radioaktive Stoffe an die Umwelt gelangen können. 

Die Fertigstellung des NSC erfolgte im 2. Quartal 2019. Im Juli 2019 übergab das Konsortium NOVARKA das NSC offiziell an das KKW Tschernobyl. Daran anschließend erfolgte zwei Jahre lang der Betrieb der Gesamtanlage in der Gewährleistungsphase unter regulären Betriebsbedingungen.
Im August 2021 startete nach Erteilung der Betriebsgenehmigung durch die atomrechtliche Behörde SNRIU der reguläre Betrieb des NSC. Die Hülle umgibt den Sarkophag mit der Kraftwerksruine des zerstörten Block 4. Erste Arbeiten und Planungen zum Abbau von instabilen Strukturen des Sarkophags, aber auch visuelle und instrumentelle Inspektionen, Strahlungsmessungen und Vermessungen wurden zwar begonnen, sie sind aber aufgrund der aktuellen Situation derzeit ausgesetzt. Eine wichtige Genehmigungsbedingung für den Betrieb des NSC/Sarkophag ist, die instabilen Strukturen des Sarkophags bis Ende 2023 abzubauen. Unter den aktuellen Gegebenheiten wird sich dieser Zeitplan aller Voraussicht nach jedoch erheblich verzögern. 

Abgebrannte Brennelemente und andere radioaktive Abfälle

Ende April des vergangenen Jahres wurde die atomrechtliche Genehmigung zum Betrieb des neuen Langzeitzwischenlagers für abgebrannte Brennelemente des KKW Tschernobyl (ISF-2) erteilt. Das Trockenlager ist für einen Zeitraum von 100 Jahren konzipiert und soll die abgebrannten Brennelemente der Blöcke 1-3 aufnehmen, die bisher im Nasslager ISF-1 gelagert wurden. Mit Stand 22. Januar 2022 sind 1.698 abgebrannte Brennelemente von der ISF-1 in die ISF-2 umgeladen worden. Bis alle 21.370 Brennelemente umgeladen sind, wird es aber noch mindestens sieben Jahre dauern. 
 

Abbildung 2: Beladungsvorgang am ISF-2
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ISF 2 Tschernobyl

Auch die Anlage zur Konditionierung von flüssigen radioaktiven Abfällen (Liquid Radwaste Treatment Plant, LRTP) erhielt im Mai 2021 eine offizielle Betriebsgenehmigung. Seitdem läuft dort die industrielle Aufbereitung der während des Betriebes des KKW Tschernobyl angefallenen flüssigen Abwässer. Im Laufe des Jahres 2021 wurden mehr als 4.000 Gebinde behandelter flüssiger Abwässer hergestellt. Zuletzt wurde am Behandlungsverfahren gearbeitet, unter anderem mit dem Ziel, die Effizienz der Anlage zu steigern. 

Ende 2021 startete zudem die letzte Inbetriebnahme-Phase, die sogenannten „hot tests“, für den ICSRM (Industrial complex for solid radioactive waste management). Dabei wird die Anlage in einem Modus betrieben, der den zukünftigen Bedingungen möglichst nahekommt. Zum Beispiel werden in dieser Phase testweise bereits radioaktive Materialien bearbeitet. Im ICSRM sollen in Zukunft feste radioaktive Abfälle aus der Stilllegung des Kraftwerks Tschernobyl so aufbereitet und verpackt werden, dass sie in ein Endlager verbracht werden können.

Im Jahr 2021 wurde in der Nähe des KKW Tschernobyl zudem das zentrale Zwischenlager (CSFSF) für abgebrannte Brennelemente der KKW Riwne, Südukraine und Chmelnyzkyj bautechnisch fertiggestellt. Der KKW-Standort Saporischschja verfügt über ein eigenes Zwischenlager. Container mit abgebrannten Brennelementen wurden im CSFSF jedoch noch nicht eingelagert. Das liegt zum einen daran, dass es zu Verzögerungen bei der Fertigstellung der dafür benötigten Eisenbahnlinie kam, über die die Transporte von den KKW-Standorten nach Tschernobyl stattfinden sollen. Zum anderen standen zuletzt noch Genehmigungen von Seiten der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde aus.