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Das Kernkraftwerk Tschernobyl von fern fotografiert mit dem New Safe Confinementt

Tschernobyl: Wie sich der Reaktorunfall bis heute auswirkt

Am 26. April 1986 ereignete sich im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl der bislang schwerste Reaktorunfall seit Beginn der Kernenergienutzung. Wegen einer Reihe von Bedienfehlern und den Besonderheiten des Reaktortyps stieg die Leistung stark an, das Kühlmittel verdampfte schlagartig; der Reaktorkern wurde zerstört. Der Reaktor explodierte und fing Feuer. Dabei gelangten rund acht Tonnen radioaktiver Brennstoff in die Umwelt. Bis heute besteht eine in einem Umkreis von 30 Kilometern gebildete Sperrzone. Was vor Ort im letzten Jahr passierte und wie die GRS die Arbeiten am Standort unterstützt hat, erzählt der folgende Beitrag.

Sarkophag und New Safe Confinement

Unmittelbar nach dem Unfall wurde über dem zerstörten Reaktor eine Stahl-Beton-Konstruktion errichtet: der sogenannte Sarkophag. Da dieser unter schwierigen Umständen erbaute Schutzmantel nur für 30 Jahre konzipiert war, wurde 2016 eine neue Schutzhülle – das „New Safe Confinement“ – über den zerstörten Reaktorblock und den alten Sarkophag geschoben. Sie ist für eine Betriebsdauer von 100 Jahren ausgelegt. Unter ihr sollen bis 2065 der alte Sarkophag und der Reaktor zurückgebaut werden.
 

Blick in den zerstörten Reaktorblock des Kernkraftwerks Tschernobyl
Blick in den zerstörten Reaktorblock des Kernkraftwerks Tschernobyl

Krieg und Corona-Pandemie beeinflussen die geplanten Arbeiten

Der Abbau verläuft wegen des Krieges und der vorangegangenen Corona-Pandemie nicht wie geplant. Die russische Armee hatte das Kernkraftwerk Tschernobyl samt Sperrzone unmittelbar nach dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar bis Ende März 2022 besetzt. In dieser Zeit wurden Anlagen und Ausrüstungen, wie z.B. ein Labor zur Untersuchung radioaktiver Abfälle, zerstört und geplündert und unter anderem Fahrzeuge, Dokumente, Dosimeter, Computer und Software entwendet.

Zwischen April und August 2022 setzte die ukrainische Atombehörde alle Genehmigungen für Arbeiten zur Stilllegung und zum Behandeln von Abfällen aus. Nach Bestätigung eines wiederhergestellten notwendigen Sicherheitsniveaus wurden diese Genehmigungen wieder erteilt.

Die ukrainische Aufsichtsbehörde hat vor diesem Hintergrund im Dezember 2023 die Genehmigung für den bis zu einem gewissen Grad stabilisierten Sarkophag um sechs weitere Jahre bis 2029 verlängert

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hat im April 2023 ein umfassendes medizinisches Programm zur Unterstützung der psychischen Gesundheit des Personals ukrainischer Kernkraftwerke gestartet. Das Kernkraftwerk Tschernobyl plant hiervon z.B. die Ausstattung der Ruheräume des Personals zu verbessern.

 

Beschädigte Computersysteme und Panzer auf dem Gelände des Kernkraftwerks Tschernobyl
Beschädigte Computersysteme und Panzer auf dem Gelände des Kernkraftwerks Tschernobyl

Rückbau, Konditionierung radioaktiver Abfälle und Zwischenlagerung

Am Standort Tschernobyl sind in den letzten Jahren verschiedene Anlagen zur Konditionierung und Lagerung radioaktiver Abfälle in Betrieb genommen worden, die das Fundament für den Rückbau des Kernkraftwerks bilden.

1. Zwischenlagerung der abgebrannten Brennelemente

Das „Interim Spent Fuel Storage Facility“ (ISF-2) ist seit April 2021 das offiziell genehmigte Zwischenlager für Brennelemente aus dem Kernkraftwerk Tschernobyl. Es besteht aus einer Bearbeitungsanlage für abgebrannte Brennelemente (SFPF), in der die abgebrannten Brennelemente für die Verpackung und Lagerung vorbereitet werden, und aus einem Lagerbereich.

Bis Ende 2023 wurden insgesamt 2.391 abgebrannte Brennelemente zur Langzeitlagerung hierhin transportiert. Allein 2023 sind 549 abgebrannte Brennelemente vom ISF-1 in das ISF-2 befördert worden. Insgesamt ist Platz für mehr als 21.000 abgebrannte Brennelemente aus den Blöcken 1 bis 3, die hier in Betonmodulen für mindestens 100 Jahre trocken gelagert werden können. 

Beladungsvorgang am ISF-2
© ChNPP.gov.ua
ISF 2 Tschernobyl

2.  Zentrales Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente (CSFSF)

Das zentrale Zwischenlager (CSFSF) für abgebrannte Brennelemente der Kernkraftwerke Riwne, Südukraine und Chmelnyzkyj wurde 2021 bautechnisch fertiggestellt. Im Mai 2023 erfolgte die erste Anlieferung von bestrahlten Brennelementen aus dem Kernkraftwerk Riwne. Mit Stand Januar 2024 befanden sich insgesamt 13 Lagercontainer im zentralen Zwischenlager. Weitere Transporte sind geplant.

3.  Konditionierung flüssiger radioaktiver Abfälle 

Die Anlage zur Konditionierung von flüssigen radioaktiven Abfällen „Liquid Radwaste Treatment Plant“ (LRTP) bereitet seit 2021 flüssige Abfälle auf, die während des Betriebs des Kernkraftwerks angefallen sind und weiterhin anfallen. Die Betriebsgenehmigung des LRTP war wegen des Krieges zwischen dem 26. April und 15. August 2022 ausgesetzt. Im Jahr 2023 hat die Anlage ihren Betrieb wieder aufgenommen und circa 230 m³ Abfälle verarbeitet. Die Abfälle werden mit einer Zementmischung konditioniert. Die Mischung wird in 200-Liter-Fässer verpackt, die nach einer mindestens 28-tägigen Wartezeit in das oberflächennahe Endlager „Engineered Near Surface Disposal Facility“ (ENSDF) für schwach- und mittelradioaktive Abfälle überführt werden können.

4.  Konditionierung fester radioaktiver Abfälle

Im „Industrial complex for solid radioactive waste management“ (ICSRM) werden feste radioaktive Abfälle so verarbeitet und verpackt, dass sie für eine Endlagerung im oberflächennahen Endlager ENSDF bereit sind. Ende 2021 startete die letzte Inbetriebnahme-Phase, die sogenannten „hot tests“, für den ICSRM. Dabei wird die Anlage in einem Modus betrieben, der den zukünftigen Bedingungen möglichst nahekommt. Die Arbeiten konnten im August 2022 abgeschlossen werden. Die endgültige Betriebsgenehmigung soll erteilt werden, sobald alle erforderlichen Dokumente vorliegen und bestätigt wurden.

Tschernobyl: Arbeiten der GRS 

Die GRS verfolgt die Arbeiten am Standort Tschernobyl im Auftrag des Bundesumweltministeriums durch verschiedene Forschungsprojekte und unterstützt die Behörden bei ihrer Arbeit im Rahmen internationaler Kooperationsprojekte. 

Tschernobyl Shelter Fonds: Datenbank zur radiologischen Situation 

Seit 2006 entwickelt die GRS zusammen mit ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die „Shelter Safety Status Database“ (SSSDB). In der Datenbank werden Daten zur radiologischen Situation vor Ort gesammelt, die ukrainischen Fachleute vor Ort erheben. Es handelt sich dabei unter anderem um Daten zu Radionuklidaktivitäten in Grund- und Oberflächenwasser, in bodennaher Luft, in sogenannten “Waste Dumps“ (Abfallgräber) und auch um Daten im Zusammenhang mit Waldbränden. Auf Basis der Datenbank lassen sich geographische Karten mit Messwerten sowie dreidimensionale Ansichten des Betriebsgeländes einschließlich Sarkophag und des New Safe Confinement erstellen.   

Darstellung des NSC vor (grau) und nach (orange) dem Verschieben in seine endgültige Position über dem alten Sarkophag aus der 3D-GIS-Anwendung der SSSDB
Darstellung des NSC vor (grau) und nach (orange) dem Verschieben in seine endgültige Position über dem alten Sarkophag aus der 3D-GIS-Anwendung der SSSDB

Schwerpunktmäßig sollen im Projekt Daten und Informationen verfügbar gemacht werden, die im Zusammenhang mit dem anstehenden Rückbau, der Stabilisierung des Sarkophags, der Bergung und Entsorgung von radioaktiven Materialien stehen und welche die radiologische Situation innerhalb und außerhalb des Sarkophags sowie  Auswirkungen der radioaktiven Kontaminationen auf die Umwelt beschreiben. Neben den Veränderungen durch das New Safe Confinement sollen aber auch die Auswirkungen der Besetzung und Zerstörung durch russische Truppen im Frühjahr 2022 erfasst und deren sicherheitstechnische Bedeutung ausgewertet werden.

Ausschnitt aus dem Geoinformationssystem (GIS), das an die SSSDB angebunden ist. Das rote Rechteck verdeutlicht die Lage der Reaktorblöcke 1-4
© GIS
Ausschnitt aus dem Geoinformationssystem (GIS), das an die SSSDB angebunden ist. Darauf sind die Standorte der Waste Dumps flächig markiert und mit dem Kürzel PTLRW (point for temporary localization of radioactive waste) gekennzeichnet. Zur Orientierung: Das rote Rechteck verdeutlicht die Lage der Reaktorblöcke 1-4

Entsorgungsstrategien am Standort Tschernobyl und in der Ukraine

Gemeinsam mit der ukrainischen Technischen Sachverständigenorganisation SSTC NRS analysiert die GRS derzeit die standortspezifischen und landesweiten Entsorgungsstrategien für radioaktive Abfälle und bestrahlte Brennelemente unter anderem unter Berücksichtigung des fortwährenden Krieges Russlands gegen die Ukraine. Das Projekt endet im Herbst 2024.