Hälfte der Reaktorflotte vom Netz – welche Ursachen die Stillstände in Frankreichs Kernkraftwerken haben
In Frankreich, das die Kernenergie unter Macron noch weiter ausbauen möchte, kommt die Kernenergie damit auf einen weltweiten Rekordanteil von ca. 67 % (2020) am Gesamtstrommix.
Dieser Wert wird für 2022 voraussichtlich deutlich tiefer liegen. Das traditionell stark Strom exportierende Land ist zudem gerade auf große Importmengen aus den europäischen Nachbarländern angewiesen – dass sich das im Winter ändern wird, ist zurzeit nicht abzusehen, auch wenn sich die Lage bis dahin etwas verbessert haben sollte. Aber warum fallen zurzeit so viele Reaktoren aus? Was sind die Ursachen dafür? Und ist davon auszugehen, dass sich solche Szenarien in den nächsten Jahren wiederholen werden?
Die Stillstände und Leistungsdrosselungen lassen sich grundsätzlich anhand ihrer Ursachen in drei Kategorien einteilen:
- Sicherheitsrelevante Schäden
- Hitze bzw. Trockenheit
- Planmäßige Stillstände.
Allerdings kann nicht jeder Stillstand trennscharf einer dieser Ursachen zugewiesen werden. Das liegt daran, dass beispielsweise Reaktoren, die auf sicherheitsrelevante Schäden hin geprüft werden müssen, bereits in einer geplanten Revision sind.
Sicherheitsrelevante Schäden im Sicherheits-Einspeisesystem
Ende 2021 wurde in Block 1 des KKW Civaux im Rahmen der alle zehn Jahre stattfindenden Sicherheitsprüfungen („visite décennale“) erstmalig eine sogenannte Spannungsrisskorrosion in der Nähe von Schweißnähten der Leitungen des Sicherheits-Einspeisesystems festgestellt. Die Betreiberin EDF hat nach Bekanntwerden der Schäden an der Anlage Civaux-1 auch den Reaktorblock 2 in Civaux für Untersuchungen vom Netz genommen; auch an den baugleichen Reaktorblöcken Chooz B-1 und B-2 wurden entsprechende Schäden bestätigt. Damit sind alle Reaktorblöcke vom Typ N4, den leistungsstärksten französischen Reaktoren mit einer Bruttoleistung von 1.560 MW, vom Netz.
Als anfällig für dieses Korrosionsphänomen haben sich zudem die zwölf 1.300-MW-Blöcke der Reaktoren vom Typ P‘4 herausgestellt. Diese befinden sich an den Standorten Belleville, Cattenom, Golfech, Nogent-sur-Seine und Penly. Diese Reaktoren der beiden Typen N4 und P‘4 sollen mithilfe einer neuen Prüfmethode möglichst zeitnah untersucht werden. EDF plant außerdem, die gesamte Reaktorflotte bis 2025 auf mögliche Schäden hin zu untersuchen.
Hitze und Trockenheit
Ein weiterer Grund für Nichtverfügbarkeit elektrischer Leistung ist die anhaltende Hitze und Trockenheit. Das Problem betrifft nicht nur französische Reaktoren: So mussten in diesem Jahr beispielsweise in der Schweiz oder in Belgien schon Reaktoren mit reduzierter Leistung gefahren werden; auch in Deutschland kam es in den vergangenen Jahren zu Leistungsdrosselungen aufgrund von Hitze und Trockenheit.
Der Grund dafür ist, dass für den Betrieb eines Kernkraftwerks Kühlwasser benötigt wird. Dieses Kühlwasser wird aus Gewässern entnommen und anschließend dorthin zurückgeleitet. Aus Gründen des Gewässerschutzes sehen entsprechende nationale Regelungen vor, dass entweder der Durchfluss des Wassers, das zurück in das Gewässer geleitet wird, oder die Temperatur des jeweiligen Gewässers bei Wiedereinleitung des Kühlwassers standortspezifisch festgelegte Grenzwerte nicht überschreiten dürfen. Um diese Grenzwerte einzuhalten, kann es erforderlich sein, die Anlagenleistung entsprechend zu reduzieren oder die Anlage abzufahren.
Um die Stabilität des Stromnetzes sicherzustellen, hat die französische Atomaufsichtsbehörde ASN auf Anfrage des Netzbetreibers RTE die Anwendung von in Frankreich geltenden erhöhten Grenzwerten für den Gewässerschutz bei anhaltenden Hitzewellen für die Anlagen Blayais, Bugey, Golfech, Saint-Alban und Tricastin zunächst befristet zugestimmt. Die Anlagen dürfen vorerst bis zum 11. September unter Auflage eines engen Überwachungsprogramms für das Gewässer weiter betrieben werden.
Planmäßige Stillstände
Der dritte Grund für die Nichtverfügbarkeit sind die planmäßigen Stillstände, bei denen sowohl Brennelemente ausgetauscht als auch eine Vielzahl routinemäßiger Prüfungen, Wartungen und Instandhaltungsarbeiten durchgeführt werden, um den sicheren Betrieb der Kraftwerkparks aufrechtzuerhalten. Je nach Länge des Brennelementzyklus finden diese ungefähr alle 12 bis 18 Monate statt und entsprechen in etwa den in Deutschland bekannten jährlichen Revisionen. In Frankreich werden sie visites partielles genannt und dauern im Normalfall ca. ein bis zwei Monate.
Etwa alle zehn Jahre findet zudem eine visite décennale statt, die üblicherweise ca. fünf Monate dauert. In dem Zusammenhang wird zuvor betriebsbegleitend ein réexamen périodique de sûreté vorgenommen, was einer deutschen Periodischen Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) gleichkommt. In den fünf Monaten werden tiefer gehende Tests und Analysen vorgenommen sowie eventuell als sinnvoll erachtete Nachbesserungen umgesetzt. Nach einer erfolgreichen visite décennale erhält ein Reaktor die Genehmigung der Aufsichtsbehörde für einen Weiterbetrieb über zehn Jahre. Da insbesondere die Reaktoren der 900-MW-Reihe aktuell ihr geplantes Alter von 40 Jahren erreichen, kommt das automatisch einer Laufzeitverlängerung auf 50 Jahre gleich.
Wie wird es im Winter und im kommenden Jahr aussehen?
Da der Strombedarf in Frankreich im Winter höher ist als im Sommer, werden die beiden beschriebenen regelmäßigen Prüfungen üblicherweise verstärkt im Sommer vorgenommen, damit die Anlagen im Winter Strom erzeugen können. Aufgrund der aktuell zusätzlich aufgetretenen Probleme mit Spannungsrisskorrosion führen die Stillstände allerdings zu erheblichen Einschränkungen bei der Stromerzeugung – bis dahin, dass Frankreich, wie eingangs erwähnt, zurzeit Strom aus dem europäischen Ausland kaufen muss, um die Versorgung zu gewährleisten.
Inwiefern diese Probleme weiter fortbestehen, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorherzusehen. Zumindest wird es im Winter weniger Prüfungen geben, Schwierigkeiten wegen Hitze sind dann auch auszuschließen. Wesentlich für die dann zur Verfügung stehenden Erzeugungskapazitäten wird sein, welche Erkenntnisse sich aus den gegenwärtigen Untersuchungen zu möglicher Spannungsrisskorrosion ergeben und wie viele Reaktoren noch von Rissen betroffen sind. Sollten sich diese auf die oben genannten Reaktortypen beschränken und dort zeitnah ausgebessert werden können, so sollte sich die Situation wieder entspannen. Sicher ist nur: Die von Macron angekündigten sechs neuen EPR-Reaktoren (plus eventuell acht in Aussicht gestellte) werden dieses Jahrzehnt nicht mehr ans Netz gehen.